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Nazibesatzung in Europa – Schau will gemeinsame Erinnerung schaffen

Fast vergessen, aber ein breites Phänomen: Ausstellungen, die sich ab 1945 in den ehemals vom NS-Regime besetzten Ländern mit dieser Zeit befassten. 80 Jahre nach Kriegsende blickt das Deutsche Historische Museum darauf.

Oradour-sur-Glane, Marzabotto, Kalavryta: Diese Namen von Dörfern in Frankreich, Italien und Griechenland kennen hierzulande wenige Menschen. In den entsprechenden europäischen Nachbarländern haben sie sich dagegen ins kollektive Gedächtnis eingebrannt: Die Nazis verübten während ihrer Besatzung im Zweiten Weltkrieg dort fürchterliche Massaker an der Zivilbevölkerung und töteten hunderte Menschen. Sie sind nationale Traumata.

Die Erinnerung an die NS-Besatzungszeit in den betroffenen europäischen Ländern sei bis heute “sehr lebendig”, sagte der Präsident des Deutschen Historischen Museums, Raphael Gross, am Mittwoch in Berlin. Hierzulande sei sie dagegen “lückenhaft oder gar nicht mehr vorhanden”. Durch die jetzt konzipierte Schau – einer Ausstellung über Ausstellungen – wolle man versuchen, “das Entsetzen zu verstehen, das bis heute einen ganzen Kontinent prägt”. Jede der damaligen Ausstellungen sei ein Versuch gewesen, “zu begreifen, was geschehen war”.

Mit “Gewalt ausstellen: Erste Ausstellungen zur NS-Besatzung in Europa, 1945-1948” zeichnet das Deutsche Historische Museum erstmals die Geschichte der Besatzungszeit anhand früher Ausstellungen in London, Paris, Warschau, Liberec und Bergen-Belsen nach. Sie begannen teilweise Anfang Mai 1945, noch bevor der Krieg überall in Europa zu Ende war. Gezeigt werden im Berliner Pei-Bau 360 Exponate, darunter Fotos, Zeitzeugen-Videos, Dokumente und Objekte.

Großbritannien etwa öffnete bereits am 1. Mai 1945 die Ausstellung “The Horror Camps”. Bilder der aktuellen Berliner Schau dokumentieren, dass die Besucher dafür damals in London Schlange standen. Rund 700.000 Besucher sahen die Bilder aus den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern; die damalige Regierung legte der Bevölkerung den Besuch ausdrücklich nahe, um die Dimension des Verbrechens zu begreifen. “Ich glaube, dass das wahr ist. Ich kann es mit meinen eigenen Augen sehen. Bilder lügen nicht”, sagt etwa ein zeitgenössischer britischer Besucher in der Dokumentation.

Die NS-Besatzung in Europa und der Versuch ihrer Aufarbeitung in damaligen Ausstellungen sei damals ein breites europäisches Phänomen gewesen, das hierzulande “nahezu unbekannt ist”, erklärte Gross. Auch in der damaligen Sowjetunion sowie in den USA wurden in der Nachkriegszeit demnach solche Ausstellungen über die Nazibesatzung in Europa gezeigt.

Dabei hatte jedes Land eine eigene Perspektive auf diese Geschichte der Besatzung: “Jede spezielle Form der Besatzung hat zu unterschiedlichen Narrativen geführt”, sagte Kuratorin Agata Pietrasik. Auffällig ist dabei laut Ausstellungsmachern auch, dass etwa in Großbritannien nicht erkennbar war, dass die auf den Fotos gezeigten ermordeten Menschen Juden waren. “Die Dimension eines europaweiten Massenmords an den europäischen Juden war in keiner dieser in Warschau, Liberec, Paris und London gezeigten Ausstellungen erkennbar”, heißt es.

Dementsprechend hat man zwei weitere Ausstellungen für die Berliner Schau miteinbezogen, die eine andere Perspektive zeigen und damals von jüdischen Überlebenden in Warschau und im deutschen Bergen-Belsen konzipiert wurden, dem ehemaligen Konzentrationslager, das nach dem Krieg zum Auffanglager für jüdische Displaced Person wurde. Beeindruckend ist etwa ein Kilim – ein Teppich oder Wandbehang – der eine Szene im Ghetto Lodz zeigt: “Er wurde von den Opfern selbst gefertigt” – ein seltenes Stück, sagte Pietrasik. Der Teppich zeigt jüdische Zwangsarbeiter, die Kleidung von deportierten Menschen sortieren, um daraus etwas Neues zu fertigen – und so, wenigstens zunächst – der eigenen Deportation zu entgehen.

Die Schau, die am Freitag im Deutschen Historischen Museum eröffnet wird, wurde in Kooperation mit der Stabsstelle des bisher nur geplanten Dokumentationszentrum “Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzung in Europa” (ZWBE) konzipiert. Größe, Ort und Finanzierung der Einrichtung seien bisher unklar, so der DHM-Präsident. Er forderte die neue Bundesregierung auf, die Realisierung des Zentrums zu sichern.

Gerade angesichts der aktuellen geopolitischen Lage – der Bedrohung durch Russland und der schwächer werdenden Unterstützung durch die USA – sei ein solches Zentrum wichtig: “Europa muss eine gemeinsame Zukunft suchen”, so Gross. Dafür sei eine gemeinsame Erinnerung der Vergangenheit unerlässlich. Bisher gebe es keinen solchen Ort in Deutschland, an dem die Gesamtheit der deutschen Verbrechen in ihrer europäischen Bedeutung deutlich werde.