Artikel teilen

Nahost-Experte fordert größeres Engagement der arabischen Welt

Der international renommierte Politologe Stephan Bierling sieht derzeit geringe Chancen für eine Stabilisierung der Lage im Mittleren Osten. Weder Israel noch die Hamas hätten eine Exit-Strategie, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die palästinensische Terrororganisation habe sich „völlig verschätzt“, weil sie dachte, dass ihre brutalen Terrortaten den Nahost-Konflikt eskalieren lassen würde, sagte Bierling. Eine Unterstützung von der Hisbollah im Libanon und von Teheran sei aber ausgeblieben. Zudem habe die Hamas nicht erwartet, dass die Israelis mit dieser Macht im Gazastreifen antworten würden.

Auch für Israel gebe es keine guten Optionen, erläuterte er weiter. Denn politisch sei die Hamas durchaus erfolgreich gewesen: Sie habe die Annäherung Israels an die arabische Welt zerstört. Diese sei bis zum 7. Oktober auf einem guten Weg gewesen. Die Hamas habe zudem offengelegt, wie katastrophal Netanjahu die Innenpolitik in den vergangenen Jahren instrumentalisiert habe, um sein politisches Überleben zu sichern. Sobald der Militäreinsatz beendet sei, werde die Debatte über Netanjahus Schicksal auf der Agenda stehen. „Die überwiegende Mehrheit der Israelis hält ihn für einen Versager, der das Land nicht schützen konnte“, sagte Bierling.

Israelis und Palästinensern müsse in dem Konflikt klar werden, dass der Weg, den sie bisher gegangen sind, nicht zum Ziel führe, sagte der Politologe. Eine weitgehende Zerstörung der Hamas sei Voraussetzung für eine Neuorientierung, aber auch eine Ablösung Netanjahus. Nach dem Krieg bräuchte es „ein größeres Engagement der arabischen Welt, die bisher ein doppeltes Spiel spielt in dem Konflikt, eine weiterhin entschlossene amerikanische Führung und eine Isolierung des Iran“, mahnte Bierling.

Eine Zwei-Staaten-Lösung, an der UNO, EU und USA lange festhielten, ist aus seiner Sicht seit den Nullerjahren vom Tisch, als die Israelis die Folgen erlebten. Aus den allein von den Palästinensern kontrollierten Gebieten im Westjordanland hätten Selbstmordattentäter in der zweiten Intifada nach 2000 Israel mit Anschlägen überzogen und aus dem 2005 geräumten Gazastreifen heraus habe die Hamas ständig Raketen auf das Land gefeuert, sagte Bierling, der im Jahr 2000 an der Universität in Jerusalem lehrte. „Das ist keine Geschäftsgrundlage für eine Zwei-Staaten-Lösung.“

Für eine Friedenslösung gibt es ihm zufolge zwei Varianten. Die eine: Nach dem Krieg könnte man eine internationale Verwaltung für den Gazastreifen errichten. Dabei müssten die Araber Teil einer dort zu stationierenden Sicherheits- und Verwaltungstruppe werden, „am besten geführt von den Europäern – ähnlich etwa der amerikanischen Militäradministration in Südwestdeutschland von 1945 bis 1949“.

Eine andere Variante sieht für den internationalen Politikwissenschaftler so aus: Der Gazastreifen und das Westjordanland könnte an Jordanien angeschlossen, ein Großjordanien geschaffen werden. Dafür gebe es gute Voraussetzungen: So lebten in Jordanien schon 80 Prozent Palästinenser. Mit einer solchen Lösung könnten seiner Ansicht nach die Israelis leben, weil Jordanien schon vor 30 Jahren einen Friedensvertrag mit Israel abgeschlossen hat. Auch für die Amerikaner wäre das akzeptabel, meinte er, „weil sie auf Geheimdienstebene mit Jordanien eng zusammenarbeiten“. (00/4318/29.12.2023)