Es gibt Fotos, die sich ins Gedächtnis der Welt einbrennen. Das Attentat auf Donald Trump hat diesen Ikonen ein weiteres Exemplar hinzugefügt.
Es ist Bild, das ohne Erklärungen auskommt. Ein Foto, das inszeniert wirkt, aber doch real ist: Ein blutender Donald Trump, der sich Sekunden nach dem Attentatsversuch geistesgegenwärtig aus der Gruppe der ihn umgebenden Sicherheitsleute emporschraubt, die Todesgefahr und den Schmerz missachtet, die Faust instinktiv nach oben reckt und “Kämpft! Kämpft! Kämpft!” ruft.
Ein Schmerzensmann, ein Märtyrer, der durch Gottes Hilfe überlebt, daran fühlt sich der Kommunikationsberater und Kolumnist Hendrik Wieduwilt am Montag auf n-tv online erinnert. “Für wen? Amerika natürlich, erkennbar am wehenden Sternenbanner im Hintergrund.” Das Foto ist von unten fotografiert: Trump scheint wie eine Erlösergestalt in den Himmel zu ragen, wie Wieduwilt analysiert.
Eine Pose, die um so stärker wirkt, als sie einen Kontrast zu dem häufig so tattrig wirkenden Joe Biden bildet, wie der Kolumnist der “New York Times”, Jason Farago, am Montag schreibt. Er fühlt sich an das berühmte Revolutionsgemälde von Eugene Delacroix erinnert: Mit hocherhobener französischer Fahne fordert eine junge, auf die Barrikaden stürmende Frau, die die Freiheit symbolisiert, das Volk auf, vorwärts zu stürmen. Die Gruppe der Sicherheitsleute, die Trump umringen, erinnert Farago an das Foto der US-Soldaten, die 1945 nach der Schlacht auf der Pazifikinsel Iwojima die US-Flagge aufrichten.
“Donald Trump wird der nächste Präsident der Vereinigten Staaten wegen dieses Fotos”, spekuliert n-tv. Es dokumentiere seinen Mut und den unbändigen Siegeswillen. “Unter evangelikalen Christen wird Trump zum Kämpfer in einem Heiligen Krieg für Christentum und Amerika stilisiert. Diese Leute werden dieses Foto als Bestätigung ihrer Fantasien werten.”
Auch der Terrorismusexperte Peter R. Neumann vermutet, dass das Foto wahlentscheidend sein könnte. “Welche Kraft dieses Bild haben würde, dessen war sich Trump sofort bewusst. Er hat gleich verstanden, dass die für ihn so bedrohliche Situation wahrscheinlich die entscheidende für den gesamten Wahlkampf sein wird”, sagte der Forscher der “Rheinischen Post”.
Trump selber nutzt das schon: “Viele Leute sagen, es ist das ikonischste Foto, das sie jemals gesehen haben. Sie haben recht, und ich bin nicht gestorben. Normalerweise musst Du sterben, um ein ikonisches Foto zu haben”, sagte er in einem ersten Interview der Boulevardzeitung “New York Post”. “Durch Glück oder durch Gott – und viele Leute sagen, es war Gottes Werk – bin ich noch hier.”
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. “Einige Studien deuten darauf hin, dass es getrennte neuronale Netzwerke für die Verarbeitung von bildhaften und verbalen Darstellungen von Emotionen gibt und dass visuelle Reize vom Gehirn schneller verarbeitet werden als Worte”, heißt es beim Bonn Institute für Journalismus und konstruktiven Dialog. Aus der Masse an Bildern, die in der Mediengesellschaft tagtäglich auf die Menschen einprasseln, stechen einige besonders heraus.
Ikonen der Zeitgeschichte: Sie gehen ins kollektive Gedächtnis ein, lenken Gefühle und Gedanken, beeinflussen Weltbilder: Robert Capas inzwischen allerdings angezweifeltes Foto vom Soldaten im spanischen Bürgerkrieg, der mit dem Gewehr in der Hand fällt, der Sprung in die Freiheit eines Volkspolizisten beim Mauerbau 1961, der von Gewehrkugeln getroffene John F. Kennedy im offenen Auto 1963 in Dallas, das nackte vietnamesische Mädchen Kim Phuc, das vor einem Napalm-Angriff flieht, Willy Brandts Kniefall am Warschauer Ghetto oder Hanns-Martin Schleyer als Gefangener der RAF.
Wie wirkmächtig diese Fotos sind, bewies 1985 die von der Zeitschrift “Stern” organisierte Ausstellung “Bilder im Kopf”: Sie zeigte gerade keine Bilder, sondern nur deren Beschreibungen. Diese “Jahrhundertbilder” haben sich so eingebrannt, dass es genügt, über sie zu erzählen.
Kolumnist Farago weist in der “New York Times” zugleich darauf hin, dass das Trump-Foto viel größere Wirkung habe als die vielen TV-Bilder. Während die Film-Szenen in wenigen Sekunden ein Chaos an Ereignissen zeigten, ermögliche das Foto die Konzentration auf bestimmte Inhalte und hole durch den instinktiven Abgleich mit ähnlichen Darstellungen die Vergangenheit in die Gegenwart.