Da war der weitgereiste Mann platt: Die Menschen hausten in einem Land, das vor Wald nur so starrte, vermerkte der römische Geschichtsschreiber Tacitus in seinem Werk über die Germanen, ein paar Jahrzehnte nach Christi Geburt. Nicht lange zuvor war die Armee der römischen Weltmacht vom Cheruskerfürsten Arminius (Hermann) vernichtend geschlagen worden. Schon damals hatte der wilde Wald der Germanen als Schutz und Trutz eine Schlüsselrolle gespielt. Germanien, so Tacitus, das sei „terra silvis horrida“ – ein Land, schrecklich wegen seiner Wälder.
Die Deutschen und ihr Wald – das ist eine ganz eigene Schicksalsgemeinschaft.
Als Tacitus schrieb, waren in seiner Heimat, dem Mittelmeerraum, die Wälder lange schon abgeholzt. Sie hatten Feldern und Siedlungen weichen müssen, Obstplantagen. Die römischen Bäder und Warmwasserheizungen brauchten Brennholz. Und die Flotte der Weltmacht verschlang die Bäume als Bauholz für Schiffe.
Umso mehr faszinierte Tacitus der tiefe, schier undurchdringliche Wald, den er bei den Germanen fand. Ehrfurcht mag der Römer empfunden haben; Schrecken ganz sicherlich. Wald, das war wie das Tor zu einer anderen Welt.
Wo der Mensch siedelte, holzte er ab
Der Wald gilt den Menschen seit jeher als Ort der Geister und Mythen, Sagen und Träume. Nicht von ungefähr spielen die Märchen der Brüder Grimm fast immer in tiefen Wäldern. Der Wald, das war über Generationen hinweg wie eine Gegenwelt zur Zivilisation. Hier die Bauern, Felder, Dörfer, Städte. Dort die Ausgestoßenen, Räuber, wilden Tiere, Fabelwesen und Hexen. Wo der Mensch siedelte, schlug und brannte er den Wald erst mal weg.
Dabei wäre ohne die Menschen der Wald wohl erst gar nicht entstanden. In alter Vorzeit grasten Herden von Pflanzenfressern alles Grünzeug ab, bevor es hoch wachsen konnte. Das änderte sich mit dem Aufkommen der Spezies Mensch: Als Jäger dezimierte er Auerochsen, Wisente, Wildpferde und Hirsche derart, dass die Pflanzen wachsen konnten: Der Wald entstand. Und er breitete sich in Jahrhunderttausenden aus. Europa war bis zu 90 Prozent mit Wald bedeckt.
Dann aber kam die Neolithische Wende. Die Menschen wurden sesshaft. In Europa geschah das etwa 5000 vor Christus Sie begannen zu roden, Äcker anzulegen und Viehweiden. Sie brauchten Holz als Brenn- und Baustoff. Die Folgen waren dramatisch. Ganze Großregionen verloren ihre Wälder. Tacitus lässt grüßen.
Um 1800 war ein Großteil des Waldes der Germanen weg
Und auch Germanien zog nach, fing an, die Bäume umzuhauen. Viehzucht, Bergbau, Köhlerei fraßen die Wälder. Um 1800 gab es auch in Deutschland kaum noch geschlossenen Baumbestand. Mögen zu Zeiten von Tacitus noch etwa 70 Prozent der Fläche hierzulande mit Wald bedeckt gewesen sein, im 18./19. Jahrhundert waren es teilweise unter 10 Prozent.
Der Wald der Germanen – er war weg. Aus. Vorbei.
Und wieder geschah etwas Eigentümliches. Die Romantik, eine kulturelle Bewegung, die in Deutschland entstand, verklärte und beweinte die Vergangenheit. Sie idealisierte den Wald als Symbol für die Natur und die deutsche Kultur. Romantische Dichter und Denker glaubten, dass der Wald die natürliche Schönheit und Wildheit repräsentierte und dass die Deutschen durch ihre Beziehung zum Wald als Teil ihrer Kultur und Identität verankert waren.
Diese romantische Verbindung zum Wald wurde auch von der nationalen Bewegung aufgegriffen, die sich für die Schaffung eines deutschen Nationalstaats und die Wiederherstellung des deutschen Reiches einsetzte. Der Wald wurde als Symbol für die deutsche Kultur und Identität verwendet und als Ort, an dem die deutsche Geschichte und Tradition lebendig waren. Turnvater Jahn, der Freiherr von Eichendorff, die Wanderbewegung, sie alle wollten raus aus den Städten, rein in die Natur – und das hieß damals: in den Wald.
Entstehung des modernen Nutz- und Kulturwaldes
Fürsten schufen Forstverwaltungen, die Wälder pflanzen sollten. Forstwirtschaft und Forstwissenschaft entstanden. Es war die Geburtsstunde des modernen Nutz- und Kulturwaldes: Was abgeholzt wurde, musste nachgepflanzt werden.
Paradoxerweise begünstigte auch die beginnende Industrialisierung die Rückkehr des Waldes: Kohle ersetzte Holz als Brennmaterial. Die Wälder wuchsen wieder.
Und so entwickelte die Bevölkerung in Deutschland eine eigene, ganz besondere Beziehung zum Wald: „Waldeslust“ – eine Wortschöpfung, auf die man erst mal kommen muss; die aber sehr treffend wiedergibt, was die Deutschen in den Wald treibt. Der Sonntagsspaziergang. Andacht und Muße, bis hin zur Rede vom Wald als Kapelle und Kirche (siehe Artikel rechts). Die Vorstellung vom „Doktor Wald“, der Körper und Seele heilen kann.
Heute ist ein Drittel der Fläche in Deutschland mit Wald bedeckt; so viel, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Das sind 11 Millionen Hektar. Die Hälfte davon ist in Privatbesitz. Die andere Hälfte gehört Bund und Kommunen. Im Grunde ein einziger, großer Forstbetrieb, der seinen Besitzern Gewinn abwerfen muss.
Der Wald ist überlebenswichtig
Aber: Der Wald ist nicht nur Doktor, sondern auch Patient. Und es geht ihm nicht gut. Luftverschmutzung und saurer Regen setzen ihm zu, Monokulturen machen ihn anfällig für Trockenheit und Käferbefall. Dringend müssten Dinge geändert werden, aber es geschieht nur schleppend (siehe Interview). Noch ist es nicht zu spät. Damit es nicht irgendwann wieder heißt: Germanien, ein Land, schrecklich wegen seiner Wälder. Nur diesmal in einem ganz anderen, verheerenden Sinn.
Der Wald ist überlebenswichtig. Ökologisch für Sauerstoffproduktion, Luftreinigung und das Speichern von Wasser. Aber auch für das Wohlbefinden der Menschen.