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Mystiker der Straße

Franz von Assisi lebte in radikaler Nachfolge Christi: Er zog als Wanderprediger durch Europa, pflegte Kranke und verkündigte das Evangelium. Seine Mystik hieß Dienen, nicht Herrschen

Er hatte nie ein kirchliches Amt, und doch gehört Franz von Assisi zu den einflussreichsten Gestalten des Christentums. Er war unabhängig, charismatisch und radikal. Und wie alle radikalen Charismatiker hatte er in seinem Leben eine 180-Grad-Wendung erlebt.
Als Giovanni Battista Bernardone wurde er 1181 oder 1182 als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns in Assisi geboren. Genannt wurde er Francesco. Als junger Mann feierte er gerne und ging großzügig mit dem Geld seines Vaters um. Als das langweilig wurde, zog er als Ritter mit in den Krieg. Er geriet in Gefangenschaft und wurde im Gefängnis schwer krank. In dieser Zeit trat eine Wende in seinem Denken ein. Francesco erkannte, dass ihn sein Luxusleben nicht erfüllte.
Bei einer Wallfahrt nach Rom hat er einer Legende nach mit einem Bettler die Kleidung getauscht, um das Leben in Armut „auszuprobieren“. Zurück in Assisi verschenkte er seine Sachen als Almosen an Arme.
Seinem Vater konnte das nicht gefallen, denn der älteste Sohn sollte ihn einmal als Tuchhändler beerben. Doch 1207 trennte sich Franziskus vor dem Bischof von Assisi von seinem Vater, verzichtete auf sein Erbe und weihte sein Leben der Erneuerung von baufälligen Kapellen und der Pflege von Aussätzigen. Er kleidete sich in einfache Gewänder und ging barfuß.
Bald schlossen sich ihm Gefährten an, die die Einfachheit in der Lebensführung mit ihm teilen wollten. Franziskus wurde zur Leitfigur, es entstand auch ein Orden mit Regeln. Obwohl er dem Orden vorstand, sah er sich weiter als demütiger Diener Gottes und verweigerte die Priesterweihe, weil er sich dazu unwürdig fühlte.
Franziskus reiste als Wanderprediger (wie Jesus) durch halb Europa, nach Südfrankreich, Spanien und bis nach Ägypten, wo er den muslimischen Sarazenen und einem Sultan das Evangelium verkündete. Zwischen den Reisen zog er sich auf den Berg La Verna im toskanischen Teil der Appenninen zur Meditation zurück. Er starb am 3. Oktober 1226 nach langem Leiden, in Portiuncula, in jener Hütte bei Assisi, wo er angefangen hatte, Gott zu dienen. Von seinen Gebeten ist der Sonnengesang das bekannteste.
Franziskus ist kein Mystiker im klassischen Sinn; nach dem gedanklichen Bild einer unio zwischen Mensch und Christus sucht man bei ihm vergeblich. Zum Mystiker macht ihn vielmehr sein ganzes Leben mit Christus in der Armut und im Leiden, die Nachfolge Christi bis in die schmerzhafte Entbehrung. Zum Mystiker macht ihn aber auch seine Berufung auf die unmittelbare Offenbarung durch Gott und seine die begrenzte Welt der Vernunft überschreitende Predigt.
Und zum Mystiker macht ihn schließlich die Überwindung des Entweder-oder-Prinzips: Franziskus war weder für noch gegen die Kirche als Institution – das Prinzip der Nachfolge Jesu konnte für ihn in der Kirche ebenso wie in einem Schafstall oder einem Palast, einem Gefängnis oder Krankenasyl gelebt werden. Der Geist der Liebe trennt nicht, sondern verbindet. Franziskus brauchte keine Kirche, um seinen Glauben zu leben, aber er stellte es anderen frei, das zu tun. Die Kirche war für ihn kein Feindbild wie für die Katharer, die in ihr den Antichristen am Werk sahen. Aber die Kirche war für ihn auch nicht der Hort des Glaubens, denn er wusste um den Amtsmissbrauch und die Unmoral im Klerus.
Wichtig war ihm, dass der Geist nicht herrscht, sondern dient. Diese große Freiheit wiederum machte ihn für die Kirche gefährlich. Hinter der Anerkennung seiner Gemeinschaft als Orden stand der Versuch einer reichen Kirche, die franziskanische Armutsbewegung in kontrollierte Bahnen zu leiten.
Das gelang weitgehend, aber die revolutionäre Christusethik des Mönchs aus Assisi blieb ein Stachel im Leib der Kirche: „Wisst, dass in den Augen Gottes gewisse Dinge überaus hoch und erhaben sind, die sonst bei den Menschen für wertlos und verächtlich gehalten werden. Und andere sind bei den Menschen wertvoll und hoch geschätzt, die in den Augen Gottes sehr wertlos und verächtlich sind“, sagte er. Im Anblick des Aussätzigen erfährt Franziskus den aussätzigen Christus. Jeder Aussätzige vermittelt deshalb das Geheimnis Jesu. Wer Franziskaner werden wollte, musste sein Noviziat im Aussätzigenheim machen.
Das „Gehen durch die Welt“ wurde für Franziskus zum Programm, er fühlte sich verpflichtet, zum Heil der Menschen seine Füße staubig zu machen. Kern seiner Botschaft und seiner Taten war immer die bedingungslose Liebe Gottes. Er konnte beten: „Die feurige und honigsüße Kraft deiner Liebe entreiße meinen Geist, ich bitte dich, Herr, von allem unter dem Himmel, damit ich sterbe aus Liebe zu deiner Liebe. Du hast dich herabgelassen zu sterben aus Liebe zu meiner Liebe.“
Das Leben selbst als Antwort auf die Liebe Gottes – das Leben als mystische Vereinigung mit Christus: Diese Vereinigung revolutioniert alle menschlichen Beziehungen, alle Welt muss aufbrechen in die Gegenwart Gottes. Dabei ist kein Platz mehr für private und egozentrische Projekte, es gibt nur noch „amor caritatis“ – die menschliche Liebes­entsprechung zur Liebe Gottes. Diese Vergegenwärtigung Gottes hat für Franziskus eine kosmische Dimension: Die ganze Welt soll „erbeben“ und der Himmel soll „aufspringen“. Im berühmten Sonnengesang ist die franziskanische Mystik zusammengefasst. Hier wird ausgedrückt: „Alles ist in Gott.“ Und: „Gott erfüllt alles.“