„Judenknecht VEIL“ – so steht es auf einem Schild, das Nazis Anfang Dezember 1938 am Pfarrgarten in Roßwälden bei Göppingen anbringen. Es soll Pfarrer Paul Veil verächtlich machen, der sich wenige Wochen zuvor nach der Reichspogromnacht vom 9. November in einer Predigt gegen das Unrecht gewandt hat, das den Juden angetan wurde. Gleichzeitig ist es eine Drohung, wie aus einer Biografie hervorgeht, die zu Veils 125. Geburtstag am 26. November erschienen ist.
Wie soll der Theologe mit der Provokation umgehen? Veil erweist sich als gerissen. Er lässt sich mit dem Schild fotografieren und hängt das Bild im Eingang des Pfarrhauses auf. Das wiederum beunruhigt den Ortsgruppenleiter der Nazis – insbesondere weil er fürchtet, das Foto könne, wenn es ins Ausland gelänge, dem Ansehen Deutschlands schaden. Ein Gauleiter ordnet deshalb an, das „Judenknecht“-Schild vom Zaun des Pfarrgartens zu entfernen.
Paul Veil ist ein lange vergessener Kirchenmann, der zwar nicht dem Widerstand angehörte, sich aber als durchaus widerständig erwies. Dabei hatte er – wie viele Christen Anfang der 1930er Jahre – die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten begrüßt. Er erhoffte sich von der braunen Bewegung mehr Freiheiten für die Kirche und eine Abwehr von glaubensfeindlichen Kommunisten und Freidenkern.
Doch der evangelische Theologe erkannte schnell, dass er aufs falsche Pferd gesetzt hatte. Die Einführung des „Arier-Paragrafen“ in der Kirche, der Christen jüdischer Abstammung aus dem Dienst entfernen sollte, lehnte er ebenso ab wie die Eingliederung der württembergischen Landeskirche in die Reichskirche. Er verlas sogar gegen ein ausdrückliches Verbot zwei Hirtenbriefe von Landesbischof Theophil Wurm, den die Nazis wegen seiner Widerborstigkeit vorübergehend unter Hausarrest gestellt hatten.
Im Dorf Roßwälden holte die NSDAP schon bei der Wahl 1932 die Mehrheit der Stimmen. Dass es zu Konfrontationen mit dem Pfarrer kommen würde, schien unausweichlich. Veil setzte sich öffentlich kritisch mit dem Buch „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ des NS-Ideologen Alfred Rosenberg auseinander. Er verlas Fürbittelisten der „Bekennenden Kirche“ für Amtsbrüder, die unter der Diktatur in Not geraten waren.
Andererseits kam der verheiratete Vater von zwei Kindern dem Regime so weit entgegen, wie er es verantworten konnte. So leistete er etwa den Eid auf den Führer. Seine Bußtagspredigt nach der Reichspogromnacht brachte das Fass allerdings zum Überlaufen. „Wäre es einem auf Gottes Wort hörenden Christen möglich, so sehr sich von Hass und Empörung leiten zu lassen, dass er die Gotteshäuser derer, die er für schuldig hält, einfach in Brand steckt?“, fragte er. Wenige Monate später wurde er wegen „Volksverhetzung“ und Verstoß gegen das „Heimtückegesetz“ angezeigt.
Am Ende lief es für Veil besser als für seinen Kollegen Julius von Jan, der im nahen Oberlenningen eine noch schärfere Bußtagspredigt gehalten hatte und dafür am Ende eine Haftstrafe von einem Jahr und vier Monaten kassierte. Das Verfahren gegen Veil wurde dagegen eingestellt. Die Auseinandersetzungen waren damit aber nicht beendet.
Der streitbare Theologe bekam von seiner Kirchenleitung in Stuttgart Unterstützung, doch hätte sich Veil mehr Engagement für die Juden gewünscht. Im Oberkirchenrat war man der Auffassung, dass die „Judenfrage“ nicht von den Ortspfarrern und schon gar nicht in Sonntagspredigten behandelt werden sollte, sondern von den kirchenleitenden Organen gegenüber den staatlichen anzusprechen sind. Hier passierte aus Veils Sicht viel zu wenig.
Mehrfach gab es in den Folgejahren Ermittlungen gegen den Roßwälder Pfarrer, der sich dann auch gegen die Nazi-Morde an Behinderten wandte. „Niemand hat hierzu das Recht außer Gott, einem Menschen das Leben zu nehmen“, soll er nach den Notizen eines Zeitzeugen im Gottesdienst gesagt haben. Positive Äußerungen im Konfirmandenunterricht über Juden zogen Befragungen nach sich.
1943 kam Veil für ein halbes Jahr auf die Uracher Alb, dann wurde er doch noch als Soldat eingezogen. Im Gefecht bei Königsberg verletzte ihn ein Splitter im Oberschenkel, was eine Sepsis nach sich zog. Am 9. April 1945 starb der evangelische Pfarrer auf der Insel Usedom. Der Theologe und Kirchenhistoriker Jörg Thierfelder, der das Leben Veils aufgeschrieben hat, sieht in der Biografie des Widerständlers etwas Mutmachendes, „sich einzusetzen gegen Rassismus und Antisemitismus“. (2461/24.11.2024)