Die erste Begegnung mit dem Unfassbaren steckt vielen von uns noch in den Knochen. Die Bilder der ausgemergelten und hohläugigen Gestalten, die die Hölle der Konzentrationslager überlebt hatten, die Bilder der Leichenberge, der Gaskammern und der Verbrennungsöfen. Auch nach Jahrzehnten steht man noch entsetzt und sprachlos davor: Wie konnte das geschehen? In deutschem Namen?
Eine einfache und befriedigende Antwort darauf gibt es nicht – trotz zahlloser Veröffentlichungen und historischer Studien. Aber es gibt eine Pflicht, die aus dem Geschehenen erwächst. Für alle Nachgeborenen. Überall in der Welt. Besonders aber für die in Deutschland. Und zwar nicht etwa, weil sie Schuld hätten an den Verbrechen der Nazis, sondern weil sie Verantwortung übernehmen müssen, damit sich der Hass nicht wieder auf solche Weise Bahn bricht. Das sind wir den Opfern schuldig, aber auch der Redlichkeit und Wahrhaftigkeit gegenüber uns selbst, unserer eigenen Geschichte.
Kein europäisches Volk hat so lange und so intensiv um eine eigene Identität gerungen wie die Deutschen. Dem Gefühl der kulturellen Zusammengehörigkeit fehlte lange Zeit die politische Einheit. Als die 1871 schließlich erreicht war, und es allen Grund für die junge Nation hätte geben können, sich als friedlicher Partner im Verein der Völker zu etablieren, haben unsere Landsleute einen anderen Weg beschritten. Sie begannen, sich über andere zu erheben: über europäische Nachbarn, über Menschen anderer Herkunft und anderen Glaubens. Mit allen bekannten Konsequenzen: zwei Weltkriegen, Auschwitz und schließlich, 1945, dem totalen Zusammenbruch.
Seither haben wir Deutschen nur wenig Zeit damit verbracht, darüber nachzudenken, was denn nun unsere Identität ist, was unsere Nation ausmachen könnte, wer wir sind und wer wir sein wollen. Die Jahre 1933 bis 1945 haben uns – verständlicherweise – die Freude an solchen Überlegungen gründlich ausgetrieben. Nation – der Begriff allein war lange Zeit tabu. Inzwischen aber ist das Thema, angetrieben durch politische Kräfte aus dem rechten Lager, wieder angekommen in der öffentlichen Debatte. Ob wir wollen oder nicht, nun müssen wir darüber reden, wenn wir den alten und neuen Nazis nicht die Deutungshoheit überlassen wollen.
Dabei dürfen wir uns gerne an die Errungenschaften der deutschen Geistesgeschichte erinnern, an Goethe und Schiller und an den wissenschaftlichen Fortschritt, zu dem deutsche Forscher beigetragen haben. Aber wir müssen uns auch erinnern an den Irrsinn und die Grauen des 30-jährigen Krieges, an Hexenverfolgung und an die Auswüchse des Nationalismus.
Feig sei nur, wer sich vor seinen Erinnerungen fürchtet, hat der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti geschrieben. Also fürchten wir uns nicht, nehmen wir die Vergangenheit in den Blick und blenden wir dabei die Bilder von Auschwitz nicht aus. Vor allem aber: Ziehen wir daraus die richtigen Schlüsse. Wie es vor uns schon die Väter und Mütter des Grundgesetzes getan haben.
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Mutig zurückblicken
Ob wir wollen oder nicht: Wenn wir Deutsche darüber nachdenken, wer wir sind, dürfen wir Auschwitz nicht ausblenden. Es ist und bleibt Teil unserer Identität