Für den Münchner Theologen Reiner Anselm muss sich die evangelische Kirche in ihrer Lehre und Frömmigkeitspraxis tiefgreifend erneuern, um die durch die Missbrauchsfälle in der Kirche ausgelöste Krise zu überwinden. „Kirche kann nicht weiterhin als Moralapostel auftreten. Wir brauchen einen Diskurs darüber, wie Kirche die Freiheit und Würde jedes Einzelnen schützen kann“, sagte der Theologieprofessor im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Am 14. Februar referiert Anselm bei einer Tagung im Christan-Jensen-Kolleg in Breklum (Kreis Nordfriesland). Ein Jahr nach Veröffentlichung der ForuM-Studie soll dort über einen künftigen Kulturwandel in der Kirche diskutiert werden. Der Studie zufolge waren zwischen 1946 und 2020 bundesweit mindestens 2.225 Menschen von sexueller und sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie betroffen.
Die Schattenseiten theologischer Konzepte müssten dringend aufgearbeitet werden, findet Anselm. Die evangelische Kirche habe zunächst ein paternalistisches Kirchenbild gepflegt, in dem Machtausübung ganz selbstverständlich gewesen und etwa gegenüber Theologinnen und Homosexuellen kaum reflektiert worden sei. Dann aber habe sie im Kontext der 1968er-Bewegung Macht und Hierarchien innerhalb ihrer Strukturen schlicht verneint, nach dem Motto „Kirche ist die Gemeinschaft der Getauften, in der doch alle Geschwister sind“. „Diese Leugnung verhindert Selbstkritik und eine offene Diskussion über Machtmissbrauch“, erklärte der Theologe.
Ein ähnliches Bild ergebe sich in der Sexualethik: Nach einer sehr restriktiven Sexualmoral habe seit den 1970er-Jahren auch in der Kirche eine massive Liberalisierung eingesetzt. Zusammen mit den Vorstellungen von Reformpädagogen wie Helmut Kentler, die auch innerhalb der Kirche Resonanz fanden und sogar sexuelle Kontakte mit Heranwachsenden idealisierten, führte dies zu einem Klima, das Pastoren ausnutzen konnten. Kumpelhafte Nähe und fehlende ethische Leitlinien hätten Grenzüberschreitungen und sexualisierte Gewalt begünstigt. Außerdem habe die Idealisierung von Gemeinschaft dazu beigetragen, dass sexuelle Übergriffe möglich waren. „Charismatische Führungsfiguren in der Kirche konnten eine Atmosphäre schaffen, die Schutzmechanismen und individuelle Grenzen auflöste“, sagte Anselm.
Neue Maßstäbe und Standards seien nun nötig, damit Missbrauch in der Kirche nicht wieder vorkomme. Die Kirche müsse sich explizit zur Autonomie des Einzelnen und zu den Menschenrechten bekennen. Moralische Machtverhältnisse sollten nicht geleugnet, sondern offen thematisiert und kontrolliert werden. Demokratische Strukturen mit gleichzeitig klaren Zuständigkeiten in der Kirche gehörten gestärkt. Eine entscheidende Reformmaßnahme sei die Eingliederung der Grund- und Freiheitsrechte in die Kirchenverfassung. Bislang basiere die Kirchenordnung mehr auf theologischen Prinzipien als auf expliziten individuellen Rechten, sagte Anselm.
Der Theologe ist der Überzeugung, dass die Institution Kirche einen Kulturwandel schafft, aber eben nicht von heute auf morgen. „Eine Institution ist eigentlich dazu da, auch in Krisenzeiten stabil zu sein. Ein Wandel innerhalb einer Institution ist ein dementsprechend langer Prozess.“ (0470/11.02.2025)