Predigttext (in Auszügen)
1 Zu der Zeit, als die Richter richteten, entstand eine Hungersnot im Lande. Und ein Mann von Bethlehem in Juda zog aus ins Land der Moabiter, um dort als Fremdling zu wohnen, mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen. (…) Und die Frau blieb zurück ohne ihre beiden Söhne und ohne ihren Mann. 6 Da machte sie sich auf mit ihren beiden Schwiegertöchtern und zog aus dem Land der Moabiter wieder zurück (…) und ihre beiden Schwiegertöchter mit ihr. Und als sie unterwegs waren, um ins Land Juda zurückzukehren, 8 sprach sie zu ihren beiden Schwiegertöchtern: Geht hin und kehrt um, eine jede ins Haus ihrer Mutter! Der Herr tue an euch Barmherzigkeit, wie ihr an den Toten und an mir getan habt. 9 Der Herr gebe euch, dass ihr Ruhe findet, eine jede in ihres Mannes Hause! Und sie küsste sie. Da erhoben sie ihre Stimme und weinten (…) Rut aber ließ nicht von ihr. 15 Sie aber sprach: Siehe, deine Schwägerin ist umgekehrt zu ihrem Volk und zu ihrem Gott; kehre auch du um, deiner Schwägerin nach. 16 Rut antwortete: Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. 17 Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden. 18 Als sie nun sah, dass sie festen Sinnes war, mit ihr zu gehen, ließ sie ab, ihr zuzureden. 19 So gingen die beiden miteinander, bis sie nach Bethlehem kamen.
Was für ein wunderbarer Satz! „Wo du hingehst, da will auch ich hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch.“ Ein Satz voll Vertrauen und Hingabe. Kein Wunder, dass er als Trauvers so beliebt ist. Die wenigsten Brautpaare wissen allerdings, dass hier eine junge Frau zu ihrer Schwiegermutter spricht.
Wer noch genauer hinschaut, sieht: Der Satz ist auch nicht aus romantischer Liebe geboren, sondern aus Not – einer Not, die vor allem Frauen zu der Zeit betraf: Rut und Noomi stehen beide am Rand einer Gesellschaft, die von Männern dominiert wird.
Frauennot und Frauensolidarität
Noomi hat nach zehn Jahren im fremden Moab ihren Mann und ihre Söhne verloren, und auch die Moabiterin Rut ist bereits Witwe. Gesetz und Tradition sehen in solchen Fällen vor, dass die Frauen von der Großfamilie aufgenommen werden. Noomi hofft, dass die Familie ihres verstorbenen Mannes sie versorgen wird, und macht sich auf den Weg zurück nach Bethlehem. Den Witwen ihrer Söhne will sie diese Migration ersparen; sie sind besser aufgehoben bei ihren eigenen moabitischen Herkunftsfamilien.
Aber bei Rut stößt sie auf Widerstand: Die junge Frau ist fest entschlossen, trotz der ungewissen Zukunft bei Noomi zu bleiben. Die Solidarität zu ihrer Schwiegermutter scheint ihr wichtiger und stabiler als die zu ihrem eigenen „Mutterhaus“. Sie beruft sich dabei auf einen Gott, der ursprünglich gar nicht ihrer ist: auf Noomis Gott, den Gott Israels.
Obwohl Rut als Moabiterin eine ganz andere religiöse Prägung hat, richtet sie sich damit nach der jüdischen Tora und erfüllt mit ihrer solidarischen, mitmenschlichen Unterstützung für Noomi das Gebot, das als das Wichtigste gilt: Liebe deinen Nächsten – und deine Nächste – wie dich selbst! Es scheint ihr ins Herz geschrieben, da sie ja den Text der jüdischen Gesetze vermutlich nicht kennt; jedenfalls handelt sie so, wie eine fromme, mit den Gesetzen vertraute Jüdin handeln sollte: Gütig. Barmherzig. Liebevoll.
Die Geschichte endet gut: Rut heiratet in der Heimat ihrer Schwiegermutter den Judäer Boas, bekommt einen Sohn und wird über diesen eine Urgroßmutter Davids. Eine Belohnung für ihre mitmenschliche Haltung – aber auch eine Provokation für die Leserinnen und Leser des Buches Rut, das wahrscheinlich zu einer Zeit geschrieben wurde, als man sich in Israel nach der Zeit des Babylonischen Exils besonders scharf gegen alle fremden Einflüsse abgrenzte.
„Seid vorsichtig mit solchen Abgrenzungen und (Vor-)Urteilen!“, ist die Botschaft der Geschichte von Noomi und Rut. Nicht nur die Zugehörigkeit zu einem Volk oder einer Glaubensgemeinschaft, sondern auch die Herzenshaltung spielen bei Gott eine Rolle! Und die Gebote sind nicht nur eine Sache des jüdischen Volkes, sondern aller Menschen, die sich von Gott ansprechen lassen.
Gott ist größer, als wir uns vorstellen können, und seine Zuwendung zu uns Menschen geht häufig ganz andere Wege, als wir uns denken. Darum konnte die Moabiterin Rut die Ahnfrau des jüdischen Königs David werden. Darum öffnen uns Menschen die Augen für Gottes Wirklichkeit, von denen wir es gar nicht erwartet hätten. Darum hat Nächstenliebe manchmal ein ganz anderes Gesicht als das gewohnte. Rut zeigt, wie wir mit Offenheit und Mut neue Erfahrungen mit Gott machen. Darin ist sie ein Vorbild im Glauben.