Ende des Jahres stellen die letzten beiden Steinkohlebergwerke in Deutschland den Betrieb ein: Anthrazit Ibbenbüren und Prosper Haniel in Bottrop. Das Ende einer Epoche, die Europa, ja die ganze Welt über zwei Jahrhunderte geprägt hat. Der Wirtschaftshistoriker Franz-Josef Brüggemeier (67) hat soeben eine umfassende Monographie zum Zeitalter der Kohle in Europa vorgelegt. Im Interview mit Alexander Brüggemann spricht er über fromme und auch abergläubische Bergleute.
– Bergleute gelten – oder galten? – als besonders fromm. Warum?
Zum einen waren bis in die 1950er Jahre ohnehin viele Menschen deutlich frommer als heute. Dass Kirche und Religion inzwischen eine geringere Bedeutung haben, ist ein relativ junges Phänomen. Zudem muss man bedenken, dass Bergleute in Gebieten arbeiteten und arbeiten, die unsicher und gefährlich sind: in Dunkelheit, in mehr oder minder großer Tiefe, ständig bedroht von Steinfall und Explosionen. Es liegt nahe, dass sie Zuflucht suchten. Traditionell und bis heute bietet Religion eine der Möglichkeiten, das zu finden: Trost, Antworten und Unterstützung.
– Und worin äußerte sich die besondere Frömmigkeit von Bergleuten?
Man darf nicht pauschalisieren und meinen, dass jeder einzelne Bergmann sehr fromm gewesen wäre. Eine große Bedeutung besaßen offizielle Formen der Kirchen, mit eigenen Pfarrern, Gottesdiensten, Kirchengebäuden. Hinzu kamen Prozessionen, auf katholischer Seite etwa zum Barbarafest. Es gab eine ganze Welt von Symbolen, Riten, Gewohnheiten, die Teil der offiziellen Kirchen waren und den Alltag prägten.
– Und daneben auch einen ganz persönlichen Bereich?
Ja, zum Beispiel berichteten Bergleute aus dem Saarland, wie sie morgens gemeinsam als Gruppe in der Dunkelheit zur Arbeit gingen – und auf dem Weg dorthin beteten, jeder für sich. Diese persönliche Frömmigkeit äußerte sich in vielen Formen.
– Auch durch Aberglauben?
Im Grenzbereich sicherlich. Wenn etwa Bergleute Wert darauf legten, vor dem Einfahren unter Tage ein Kreuzzeichen zu machen: Ist das ein Ausdruck tiefer Religiösität – oder ein eher abergläubisches Ritual? Da sind manche Übergänge fließend.
– Sie sprechen in Ihrem Buch von einer „heilen Welt der religiösen Kultgemeinschaft“. Was meinen Sie damit?
Nun, dasselbe, was auch heute für viele Menschen ein wichtiger Teil ihres Glaubens ist: eine Vertrautheit der Riten. Das geht mir selbst genauso. Wenn ich in einen Gottesdienst gehe, erinnere ich mich – nicht sehr reflektiert, sondern eher unterbewusst – an Lieder, Riten, Abläufe aus der Kindheit. Das hat vermutlich damals eine größere Rolle gespielt als heute. Auch weil die Gemeinschaften kleiner waren, vertrauter.
– Viele Bergbauregionen waren aber Zuzugsgebiete.
Genau – weil sie meist etwas abseits lagen. Das Ruhrgebiet wurde erst eine großindustrielle Region, als dort nach 1850 massenhaft Kohle abgebaut wurde. In der näheren Umgebung fanden sich nur wenige Arbeitskräfte, so dass Zehntausende hinzogen. Gerade für Zuwanderer – und das gilt bis heute – ist es ganz wichtig, sich etwas Vertrautheit zu schaffen. Die können sie erreichen über Familien, über Landsmannschaften – und auch über Religionszugehörigkeit; über die Gemeinschaft, die Kirche und Religion bieten.
– Gab es dabei auch konfessionelle Reibereien?
Selbstverständlich. Unter Tage, durch die besonderen Arbeitsbedingungen, war letztlich die Gemeinschaft wichtiger als Rivalitäten. Aber über Tage brachen diese Rivalitäten häufig aus – auch handgreiflich. Zwischen den Konfessionen – aber auch gegenüber denen, die den Kirchen ablehnend, wenn nicht feindselig gegenüberstanden: etwa einem Teil der sozialistischen Bewegung.
In Großbritannien zum Beispiel überlagerten zusätzlich auch nationale Rivalitäten die religiösen Kon-flikte. Viele Zuwanderer dort waren katholische Iren, die einheimischen Engländer und Schotten meist Anglikaner oder Freikirchler. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts führten diese Spannungen mehrfach auch zu gewaltsamen Auseinanderaussetzungen. Ähnlich sah es im Ruhrgebiet aus, wohin viele katholische Polen zuwanderten, die nicht immer willkommen waren und zahlreiche Konflikte erlebten.
– Sie haben gerade den Sozialismus angesprochen. War die durch die Kirchen geförderte Religiosität auch ein Bollwerk gegen links? Es gab ja zum Beispiel auch christliche Gewerkschaften.
Die Amtskirche förderte christliche Gewerkschaften, um ein Gegengewicht zu den sozialdemokratischen und sozialistischen Organisationen aufzubauen. Zugleich waren aber auch Teile der sozialistischen Bewegung so antiklerikal und antikirchlich eingestellt, dass sie ebenfalls Mauern errichteten – da mussten die Amtskirchen keine eigenen mehr aufbauen. Es gab ja den be-kannten Satz, Religion sei „Opium für das Volk“. Viele Linke waren fest davon überzeugt, dass sie und ihre Arbeitskollegen sich von Kirche und Religion frei machen müssten, um eigenständig handeln zu können. Am Ende haben beide Seiten erheblich dazu beigetragen, dass die Gräben so tief und die Wälle so hoch geworden sind.
– Sie kommen selbst aus dem Ruhrpott, sind in Bottrop aufgewachsen; und das Thema beschäftigt Sie wissenschaftlich schon sehr lange. Hat der Kohlebergbau für Sie emotional auch eine Art religiöser Aura?