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Mein Alltag mit der Genderbrille

Wenn ich morgens aufstehe, setze ich sie automatisch auf: meine Genderbrille. Dann ist mein Blick geschärft für Gender, Rollenklischees und Geschlechter(un)gerechtigkeit. Was das genau heißt, verrate ich Ihnen hier

mouse_md - Fotolia

Letztens war ich einkaufen. In der Süßigkeitenecke greift meine Tochter zu den Leckereien. Automatisch nimmt sie sich ein Überraschungs­­­­­ei in Blau, denn das ist ihre Lieblingsfarbe. Als ich genauer hinschaue, entdecke ich, dass es noch eine andere Sorte gibt: nämlich in Pink. In der einen sollen Dinos sein, in der anderen Feen.
Gender-Marketing, nennt man das. Und es bedeutet, dass die Werbung Produkte extra für Mädchen und extra für Jungen konzipiert. Ganz klischeegetreu.

Gerade die Werbung verbreitet feste Rollenbilder

Kürzlich gab es eine öffentliche, auch in den Medien geführte Debatte über zwei andere Varianten der Überraschungseier: Das eine mit dem Titel: „Für Weltmeister“. Das andere: „Für Spielerfrauen“. Dieses Gender-Marketing löste eine Welle der Empörung aus. Frauen und Gender-Verbände kritisierten die Marketingmasche als diskriminierend, weil sie traditionelle Geschlechterbilder fördere. Waren es nicht die Fußball-Frauen, die mittlerweile schon zum zweiten Mal den Titel „Weltmeisterinnen“ für Deutschland geholt haben?
Marketing mit Geschlechterklischees existiert aber auch bei der Zielgruppe der Erwachsenen. Es gibt Cremes für Männer, die mit „ex­tra strong“ beschrieben werden, und die für Frauen heißen „Entspannung pur“. Ärgerlich wird es aber dann, wenn „Gender-Pricing“ ins Spiel kommt. Das bedeutet, dass Produkte für die verschiedenen Geschlechter unterschiedlich teuer sind. Eine Analyse der „Times“ von 2016 hat ergeben, dass sogenannte „Frauenversionen“ bis zu 37 Prozent mehr kosten als „Männerversionen“. Und das, obwohl die Produkte ansonsten die gleiche Qualität aufweisen. Alles Gender, oder was?
Aber bleiben wir im Supermarkt. Wenn ich mit meinem Einkaufswagen Richtung Kasse rolle, sitzen dort meistens Frauen. Viele von ihnen sind halbtags beschäftigt, oft mit 450-Euro-Verträgen. „Minijobs sind eine Sackgasse“, sagte Niedersachsens Sozialministerin Cornelia Rundt im Juli auf der Landeskonferenz der Gleichstellungsbeauftragten. Sie führten Frauen in die Armut, denn sie garantierten keine Absicherung im Alter.
Die Frau im Supermarkt meines Vertrauens ist alleinerziehend. Sie hat Probleme mit den – aus ihrer Perspektive – neuen, familienunfreundlichen Öffnungszeiten. „Wir sind am Samstag bis 22 Uhr für Sie da!“, steht auf dem Plakat vor dem Geschäft. Das ist eine Herausforderung, denn eine Kinderbetreuung ist zu den ungünstigen Randzeiten nicht automatisch gesichert. Es bedarf viel Flexibilität der Angestellten, um diese kundenfreundlichen Öffnungszeiten möglich zu machen.
Und dass es immer noch „typische Frauenberufe“ und typische „Männerberufe“ gibt, ist ebenfalls eine Genderfrage. Laut Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sind diese frauentypischen Berufe im Dienstleistungssektor auch schlechter bezahlt als Berufe im technisch-naturwissenschaftlichen Bereich, die vorzugsweise von Männern gewählt werden. Die unterschiedliche Bewertung von Tätigkeiten führt zu einer Entgeltungleichheit zwischen Männern und Frauen in Deutschland.
Aber wenn ich durch meine Genderbrille schaue, sehe ich auch Erfolge:
Zum Beispiel mit einem Genderblick in die Kindertagesstätten. Während im Jahr 2010 nur 9979 Männer in Deutschland in Kitas arbeiteten, waren es 2014 bereits 77 Prozent mehr, nämlich 17644 Männer. „Mehr Männer in Kitas“, heißt das Konzept, mit dem das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gezielt Jungen und Männer für den Beruf ansprechen will. Trotz gestiegenen Männeranteils bleibt noch viel zu tun, denn der Männeranteil an den pädagogischen Fachkräften in Kitas liegt in Deutschland erst bei 3,8 Prozent (2014).
Hoffnungsvoll war auch der Auftritt von Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig am 12. Juli beim Christopher Street Day in Berlin. Sie sprach sich für die Anerkennung und Akzeptanz der unterschiedlichen geschlechtlichen Identitäten und die Gleichstellung von gleichgeschlechtlicher Liebe aus. „Nein zu Gewalt und Diskriminierungen gegen lesbische, schwule und transsexuelle und transgender Menschen – überall!“, so ihre Botschaft. Dieser Schutz soll auch den zu uns geflüchteten Menschen gelten. Ein wertvolles Zeichen.

Die Genderbrille ist anstrengend, aber gibt auch Kraft

Meine Genderbrille trage ich auch, wenn ich in den Gottesdienst gehe. Und was soll ich sagen, bei meinem  letzten Gottesdienstbesuch wurde ich positiv überrascht. Denn die Pfarrerin bemühte sich um eine geschlechtergerechte Sprache und benutzte vielfältige Beschreibungen für Gott – auch weibliche. Sogar in den Liedern, die sie ausgesucht hatte, kam ein facettenreiches Gottesbild zum Ausdruck. Eben: geschlechtergerechte Theologie.
So eine Genderbrille sensibilisiert. Seitdem ich sie trage, nehme ich die Welt differenzierter wahr. Manchmal ist sie anstrengend. Der kritische Blick stimmt mich oft nicht heiter. Die Genderbrille zeigt mir glasklar, wo Rollenbilder und Klischees unsere Freiheit einengen und wo sie gesellschaftliche Ungerechtigkeit stärken. Aber: Die Genderbrille fordert auch meinen Protest heraus. Und sie gibt mir Kraft zur Veränderung.

Nicole Richter ist Leiterin des Fachbereichs Frauenreferat im Institut für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen.