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Mehr als nur die Tochter

Auf den Nachkommen prominenter Persönlichkeiten liegt oft ein Schatten, lastet doch der Familienname schwer auf ihnen. Psychoanalytikerin Anna Freud hat er genutzt – sie trat in die Fußstapfen ihres Vaters und wurde zur Begründerin der Kinderanalyse.

Die unerwiderte Liebe eines Elternteils kann Menschen ein Leben lang prägen. Die einen schließen schnell mit ihrer Familie ab, bei anderen entsteht ein umso engeres Band – in der Hoffnung, eines Tages doch noch Anerkennung und Bewunderung zu erfahren. Ein Stück weit mag es Anna Freud – Tochter des weltberühmten Wiener Arztes Sigmund Freud – so ergangen sein. Sie wurde vor 125 Jahren, am 3. Dezember 1895 in Wien, geboren, als sechstes Kind der jüdischen Familie.

Das Mädchen kommt als Nachzüglerin zur Welt, ungewollt. Selbstzweifel, auch im Schatten des berühmten Vaters, sollen sie lange begleiten. „Ich habe immer nach Stärke und Selbstbewusstsein gesucht, bis ich festgestellt habe, dass ich beides schon immer mit mir herumgetragen habe.“ Später betont sie immer wieder die Bedeutung der Mutterfigur im Leben von Menschen, wohl wissend um die eigene ambivalente Beziehung zu ihren Eltern.

Versuchskaninchen für den Vater

Manche ihrer späteren fachlichen Erkenntnisse scheinen daran anzuknüpfen. Freud spricht von ihrer Sehnsucht nach der „Zuneigung der Menschen, mit denen ich in Kontakt bin, und ihre gute Meinung von mir“. Ein anderes Mal wird sie feststellen: „Ein Kind, das im Herzen seiner Eltern keinen Platz findet, findet auch keinen Platz in der Welt.“ Anna Freud selbst wird dennoch ihren Platz im Leben finden.

Vielleicht ist es ihr eigenes kindliches Erleben, das dazu beiträgt, dass sie sich schließlich der Psyche junger Menschen widmet. Nach ihrer Reifeprüfung arbeitet Freud zunächst als Lehrerin an einem Wiener Gymnasium. Doch sie interessiert sich auch für die Psychoanalyse – und unterzieht sich einer Lehranalyse bei ihrem Vater, dem Begründer der Psychoanalyse. Diesem soll die Tochter mehr als Versuchskaninchen in der Analyse gedient haben, als dass er eine väterliche Beziehung zu ihr aufgebaut hätte. 1923 gründet sie in Wien eine eigene Praxis und folgt damit als einziges der sechs Freud-Kinder beruflich dem Vater. Gleichwohl weiß dieser offenbar ihre fachlichen und menschlichen Qualitäten zu schätzen.

Denn Anna unterstützt ihren Vater als Mitarbeiterin und enge Vertraute treu sorgend in seiner Praxis, auch als dieser nach jahrzehntelangem Zigarrenkonsum Mundhöhlenkrebs bekommt und in den folgenden Jahren zunehmend Hilfe benötigt. Zugleich ist Anna Freud seit 1925 mit Dorothy Burlingham-Tiffany liiert, einer Millionenerbin aus New York mit vier Kindern; die Vermutung einer lesbischen Liebe dementieren beide stets.

Derweil wächst ihr eigenes berufliches Ansehen, sie gewinnt bahnbrechende Erkenntnisse im Bereich der Kinderpsychologie. 1927 bis 1934 ist sie Generalsekretärin der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung IPV. Freud verfasst mehrere Grundlagenwerke der psychoanalytischen Literatur; als ihr Hauptwerk gilt „Das Ich und die Abwehrmechanismen“ (1936), das noch heute zur Standardliteratur der Psychoanalyse gehört.

1933 gehören die Schriften ihres Vaters zu den Büchern, die der Bücherverbrennung zum Opfer fallen. 1938, nach dem „Anschluss“ Österreichs, emigriert ein Großteil der Familie Freud nach London, so auch Anna mit ihrer Lebenspartnerin. Sigmund Freud stirbt – gezeichnet von seiner Krankheit, nach einer von seinem Hausarzt verabreichten tödlichen Dosis Morphin – ein Jahr später 83-jährig im Exil.

In England arbeitet Anna Freud als Lehranalytikerin, tritt als führende Psychoanalytikerin die Nachfolge ihres Vaters an und wird britische Staatsbürgerin. 1941 gründet sie mit Burlingham-Tiffany die Hampstead Nurseries, eine Institution für traumatisierte Kriegskinder und -waisen. Dort entwickelt sie – auch inspiriert von den Schriften der italienischen Ärztin und Reformpädagogin Maria Montessori – die Kinderpsychologie weiter, verbindet die Psychoanalyse junger Menschen mit lebensnaher Psychologie.

In ihren Sitzungen sorgt sie bei ihren jungen Patientinnen und Patienten für ein freundliches Umfeld, damit diese sich öffnen können. Sie findet einen kindgerechten, weniger analytischen Zugang zu ihren Klienten: die Spieltherapie.

Zugleich erkennt sie die Bedeutung von guten, frühen Beziehungen im Leben und das Erleben von Fürsorge und Geborgenheit. Deshalb lehnt sie Waisenhäuser, die aus ihrer Sicht zu weiterer Hospitalisierung beitrügen, ab. Vielmehr bräuchten verstoßene und vernachlässigte Kinder eine warme, familiäre Atmosphäre und eine Mutterfigur. In ihren Londoner Heimen bemüht sie sich, familienähnliche Strukturen zu schaffen, so dass jedes kriegstraumatisierte Kind dort Freunde und eine Art Ersatzmutter und einfühlsame Psychotherapeuten finden kann.

International gefragte Expertin bei Kongressen

1945 nimmt sie in dem Heim auch Kinder aus dem Konzentrationslager Theresienstadt auf und betreut sie. Die Analyse von kriegstraumatisierten Kindern wird zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit. Nach dem Krieg baut sie das Heim aus zu einem renommierten Lehrinstitut für Kindertherapie, das inzwischen nach ihr benannte Anna Freud Center.

Neben ihrer Arbeit an der Klinik ist Freud – wie schon ihr Vater – eine international gefragte Expertin bei Kongressen und Vortragsreisen. In Anerkennung ihrer Leistungen erhält sie unter anderem 1967 von Königin Elisabeth II. den Order of the British Empire und 1975 einen wichtigen Orden für Verdienste um die Republik Österreich. Die Begründerin der Kinderanalyse stirbt im Herbst 1982 in London. Ihre letzte Ruhe findet sie in einem Kolumbarium in der Themsestadt, bei ihrem Vater.