Mitten im Ersten Weltkrieg schreibt der Komponist Max Reger das Orgelstück „Siegesfeier“. Es wird seine letzte Komposition für Orgel – Reger stirbt kurze Zeit später im Alter von nur 43 Jahren am 11. Mai, vor hundert Jahren. Ein Choral erklingt, wie so häufig in Regers Orgelwerken, auch in seinem letzten Stück: „Nun danket alle Gott“ von Martin Rinckart.
„Die Protestanten wissen nicht, was sie an ihrem Choral haben“, äußert bereits der 25-jährige Reger gegenüber seinem Orgellehrer Adalbert Lindner. Der Melodienreichtum der evangelischen Kirchenmusik fasziniert den katholisch erzogenen Komponisten sein Leben lang. Wahrscheinlich findet er Noten der evangelischen Liturgie in der heimatlichen Dorfkirche in Weiden, wo Reger schon als 13-jähriger Aushilfsorganist ist, denn die Kirche wird von beiden Konfessionen genutzt. In vielen seiner Werke setzt er Choralzitate ein, und mit seinen gewaltigen Choralfantasien für Orgel, in denen er jeweils ein Kirchenlied Strophe für Strophe musikalisch auslegt, erweckt er eine seit Johann Sebastian Bach fast vergessene Kunstform zu neuem Leben.
Aber nicht nur die virtuosen, für die damalige Zeit Grenzen sprengenden Kompositionen interessieren Reger. Er widmet sich auch der kleineren Gebrauchsform des Choralvorspiels und veröffentlicht in den Jahren 1903 und 1914 zwei Zyklen von leichteren Vorspielen, die sich im Gegensatz zu seinen groß angelegten Konzertstücken auch für den Einsatz im Gottesdienst eignen.
In den Melodien und Texten des evangelischen Gesangbuchs findet der Extremmensch wohl seine eigene Form von Spiritualität – vielleicht wirken sie ausgleichend auf seinen zu Extremen neigenden Charakter. Bereits als junger Mann erlitt der hochtalentierte Musiker einen Zusammenbruch und konnte einer Einweisung in ein Heim nur durch die Rückkehr zu seiner Familie entgehen. Hier, in der Abgeschiedenheit der Oberpfalz, findet er zu seinem ganz eigenen Kompositionsstil für die Orgel, für den er bis heute berühmt ist.
Sein Leben ist fortan geprägt von manischer Arbeitswut, sowohl beim Komponieren als auch, bei zunehmender Bekanntheit, bei seinen Konzertreisen. Der Alkohol, dem er seiner Frau Elsa zuliebe abschwören will, bleibt dabei eine ständige Gefahr. Von Zeitgenossen wird er als Egozentriker beschrieben, dabei als sehr sensibel und zu depressiven Stimmungen neigend. Wie in seinen Kompositionen überschreitet Reger auch in seiner Spiritualität Grenzen: Anfangs die zwischen der katholischen und der evangelischen Frömmigkeit; später, gegen Ende seines Lebens, entstehen geistliche Werke, die zum Teil über die traditionellen biblischen und kirchlichen Bezüge hinausgehen.
Über das letzte Orgelwerk, die „Siegesfeier“, rätseln die Ausleger. Es steht in einem Zyklus von sieben Stücken, von denen drei sich mit dem Krieg beschäftigen – eine „Trauerode“ für die Gefallenen, ein „Dankpsalm“ und eben als letztes die „Siegesfeier“ –, während die übrigen vier den großen Festen des Kirchenjahres zugeordnet sind. Man kann darin eine religiöse Überhöhung des deutschen Leidens während des Krieges sehen – oder auch eine Sehnsucht nach Frieden herauslesen, ein Gebet dafür, dass endlich Schluss sein möge mit dem sinnlosen Abschlachten in den Schützengräben. Der zu patriotischen Anlässen gern genutzte Choral „Nun danket alle Gott“, den Reger in bombastischen Akkorden erklingen lässt, unmittelbar gefolgt von der Melodie des Deutschlandliedes, spricht allerdings eher für die erste Lesart.
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Max Reger und die Liebe zum Choral
Ein katholischer Komponist entdeckt das evangelische Kirchenlied – mit großem Erfolg
