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Marco Politi skizziert Papst Franziskus als “Unvollendeten”

Seit zwölf Jahren ist Papst Franziskus im Amt. Zeit für eine Bilanz in Zeiten, die für ihn selbst und für die katholische Kirche keine einfachen sind. Ein Vatikanexperte aus Italien versucht sich daran.

Es kommt selten vor, dass ein italienischer Autor ein Buch über den Vatikan schreibt, das dann zuerst in Deutschland erscheint. Genau das passiert derzeit mit dem Buch des römischen Vatikan-Experten Marco Politi. Unter dem Titel “Der Unvollendete” ist es eine Bilanz des Franzikus-Pontifikats in seiner Spätphase. Und dass die jetzt eingetreten ist, haben die Meldungen über den kranken Papst aus der Klinik in jüngster Zeit unmissverständlich klargemacht.

Politi ist heute in Deutschland fast bekannter als in seiner Heimat. Das liegt auch daran, dass der Sohn einer deutschen Mutter die Geheimnisse des Vatikans auf Deutsch gut erklären kann. Es ist sein viertes Buch über Franziskus. Die drei anderen erschienen zuerst in Italien, dann in Deutschland. In ihnen beschrieb Politi den Pontifex aus Argentinien als einen “prophetischen” Papst, der seiner Kirche weit voraus ist. Oder als einsames Lamm “unter Wölfen” – womit die gegen ihn arbeitenden Kräfte in der römischen Kurie und in der Weltkirche gemeint sind.

Sein neues Buch erscheint im Verlag Herder kurz vor dem zwölften Jahrestag der Papstwahl – und zufällig während der größten Gesundheitskrise des 88 Jahre alten Pontifex. Diesmal ist der Grundton von Anfang mit einer gewissen Düsterkeit angemischt. Die im Titel verdichtete These des Autors lautet, dass Franziskus in der Kirche viel Gutes angeschoben, aber bei weitem nicht alles vollendet hat.

Und dass er deswegen seinem Nachfolger demnächst eine Kirche hinterlässt, die mit sich selbst im Streit liegt. Eine Kirche, die noch immer nicht gelernt hat, mit den Herausforderungen das 21. Jahrhunderts so umzugehen, dass sie nicht selbst zerrissen wird, sondern ihrerseits den Menschen Versöhnung und Orientierung vermittelt.

Schonungslos schildert Politi in dem Kapitel “Schwarze Löcher” Schattenseiten des Pontifikats. Dazu zählt er die oft sprunghaften Entscheidungen bei komplexen Themen und den zu nachlässigen Umgang mit einzelnen Priestern, denen sexueller oder geistlicher Missbrauch vorgeworfen wird.

In einem anderen Kapitel schildert er den “Unmut im Palast”. Darin gibt er anonyme Stimmen von Kardinälen und Prälaten zum Besten, die sich über ihren Chef das Maul zerreißen. Dazu gehören Äußerungen wie: “Projekt, Planung und Organisation sind Fremdwörter für ihn”, oder “Nichts ist unter Kontrolle; hier wird ein Flicken aufgenäht, dann dort der nächste…”

Einer der wenigen Kritiker, die er mit Namen zitiert, ist der von Franziskus 2017 entlassene deutsche Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller – der freilich immer klar zwischen Loyalität zum Papst und Kritik an einzelnen Maßnahmen und Lehren trennt. Eine gute Beobachtung der papstkritischen Stimmung an der Kurie gelingt Politi, wenn er schreibt: “Dieselben Menschen äußern sich mit aufrichtiger Begeisterung über seine Persönlichkeit und sein Werk – und mit präziser Kritik an seinem Führungsstil.”

Eine Mischung aus Bewunderung und Kritik prägt auch die Gedanken des Autors. Etwa wenn er feststellt, dass es dem “Reformer” Franziskus so wenig wie seinen beiden konservativen Vorgängern gelungen ist, die Abwanderung aus der Kirche – insbesondere in Europa – zu stoppen. Als Beleg zitiert er “einen Kurienbischof”, der sagt, Franziskus verstehe nicht, wie dramatisch die Lage der Kirche in Europa wirklich sei – weil er noch immer an die alte Volksfrömmigkeit glaube, die in weiten Teilen Europas längst ausgetrocknet ist.

Die Spannung zwischen Gelingen und Scheitern hält sich durch bis in die Beschreibung der letzten, von Krankheit geprägten Phase des Pontifikats. Die nur mühsam im Rollstuhl vollzogene Öffnung der Heiligen Pforte des Petersdoms an Heiligabend 2024 kontrastiert mit dem kraftvollen Anklopfen an der Heiligen Pforte der Kirche im römischen Rebibbia-Gefängnis.

Politi fasst zusammen: “Zwischen den beiden Polen von Schwäche und Zähigkeit gürtet er sich für die letzte Phase seiner Amtszeit.” Und mit Blick auf den nächsten Papst schreibt er: “Franziskus hat die Saat ausgebracht und ihm ist bewusst, dass ein anderer die Ernte einfahren muss. Seinem Pontifikat haftet etwas Unvollendetes an.”