Wolf und Stiefmutter sind böse, aber am Ende gewinnt das Gute: Märchen bieten Klischees, eine veraltete Sicht auf viele Dinge, aber auch wohlige Erinnerung an die Kindheit. Erleben lassen sie sich das im Märchenwald.
Sie sind auf der Suche nach den sieben Geißlein: Henrick, Hauke, Luise, Levke und Lian. Die Kinder – zwischen vier und acht Jahre alt – stehen vor einem Fachwerkhäuschen und beobachten, was sich hinter den Scheiben abspielt. Zu sehen ist das Grimmsche Märchen “Der Wolf und die sieben Geißlein”. Auf Knopfdruck wird die Geschichte über den Wolf erzählt, der sechs Geißlein verspeist und vor dem sich das siebte Geißlein im Uhrkasten versteckt.
Das Schaubild im Märchenwald in Ibbenbüren, einer ehemaligen Bergbaustadt im nördlichen Westfalen, ist Jahrzehnte alt und die Geschichte selbst wohl rund 200 Jahre. Sie steht in den 1812 veröffentlichten Kinder- und Hausmärchen der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Die jungen Besucher begeistert sie: Märchen, das sagen die Mütter Melanie Schaefer und Katharina Brand, würden bis heute vorgelesen und als Hörspiel gehört. Beliebt sei “Schneewittchen”; “Hänsel und Gretel” findet Brand “auch sehr gruselig”.
Die Hexe, die Hänsel mästen und braten will und die schließlich von Gretel überlistet wird, ist im Häuschen nebenan zu sehen. An der Wand mit Augenzwinkern ein Kochrezept: “Junge im Speckmantel”.
Für solche Details und Neuerungen ist Luisa Derhake verantwortlich. In vierter Generation leitet die 38-Jährige das Familienunternehmen gemeinsam mit ihrer Mutter. 1926 fing alles mit einer Sommerrodelbahn an, die heute die älteste noch existierende Bahn Deutschlands ist. 1958 zogen Zwerge, Prinzessinnen, Wölfe und der eine oder andere Gauner ein.
Wie viele Märchenwälder es in Deutschland gibt, ist nirgendwo verzeichnet. Der Märchengrund in Bad Sachsa in Niedersachsen wurde eigenen Angaben zufolge im Jahr 1910 eröffnet, jener im thüringischen Wünschendorf 1927. Einige sind klein, nur lokal bekannt und haben wenige Schaubilder, manche mussten eines Tages schließen.
In Ibbenbüren wuchs Unternehmerin Luisa Derhake mit den Märchen der Gebrüder Grimm auf, wunderte sich aber schon früh über manche Ungereimtheit. “Im Märchen ‘Rumpelstilzchen’ hat der Vater seine Tochter verkauft, weil diese Stroh zu Gold spinnen konnte. Als diese schließlich genau aus diesem Grund verheiratet wurde, musste sie das aber nicht mehr tun. Das ergab keinen Sinn.”
Kritisch sieht sie auch jene Märchen, in denen Frauen ungefragt von Prinzen geküsst oder ohne ihre Zustimmung verheiratet werden. Dabei ist das eine oder andere Märchen schon abgeschwächt: In der italienischen Version von “Dornröschen” – Titel: “Sonne, Mond und Thalia” – wird die Protagonistin im Schlaf von einem Prinzen vergewaltigt und bringt zwei Kinder zur Welt. Zu lesen ist es in der zwischen 1634 und 1636 veröffentlichten Märchensammlung Pentamerone von Giambattista Basile.
Für den Märchenwald des 21. Jahrhunderts hat Derhake “Dornröschen” und “Rumpelstilzchen” erneuert: Bei letzterem hat sich die arme Spinnerin schließlich in den Königssohn verliebt und der Heirat zugestimmt. “Wir schauen, dass wir mit der Zeit gehen, ohne gleichzeitig zu sehr in eine Geschichte zu pfuschen.” Man habe vor einem Märchen als Kulturgut großen Respekt. “Wir wollen nur minimale Anpassungen vornehmen, die dem ‘normalen’ Gast gar nicht auffallen sollen”, sagt Derhake. Auch habe man mit der technischen Instandhaltung des Parks viel zu tun.
Wer schon als Kind im Märchenwald war, sucht oft das Vertraute: den Goldesel am Eingang oder den frechen Zwerg, der in einem der Schaubilder in einen Teich pinkelt. Märchen werden mit der Kindheit verbunden. Doch wer genau hinschaut, entdeckt Details: So begrüßen heute Zwerge mit unterschiedlichen Hautfarben die Gäste auf dem Weg zum Eingang. Märchen wie Schaubilder hätten immer auch die jeweilige Sicht auf die Welt eingefangen.
Doch sind die Geschichten, die Jacob und Wilhelm Grimm im 19. Jahrhundert aufgeschrieben haben, noch zeitgemäß? Eine Mutter geht mit ihren Töchtern von Häuschen zu Häuschen. Ausgerechnet vor dem Knusperhaus mit Ofen, in dem Hänsel braten sollte, bleibt die Familie, die in den USA lebt, lange stehen.
Die Mädchen beobachten die Hexe mit der schwarzen Katze auf der Schulter. Zum Deutschland-Aufenthalt gehört für sie ein Besuch im Märchenwald dazu. Mutter Agnes, die nur ihren Vornamen nennt, hat ihn als Kind selbst besucht. Heute ist sie hin- und hergerissen: “Mein Mann sagt, solche Geschichten für Kinder seien nicht normal.”
In Berlin hält die emeritierte Professorin für Theaterpädagogik, Kristin Wardetzky, dagegen. “In einer Zeit, in der Kinder über Handys, Film und Fernsehen in die unterschiedlichsten Medien-Welten eintauchen, sind sie dennoch von den traditionellen Märchen fasziniert”, sagt Wardetzky, die auch Vorstandsmitglied der Märchen-Stiftung Walter Kahn ist.
Am besten erlebbar sei das in Schulprojekten. Seit 2005 organisierte sie an Berliner Schulen Projekte, in denen professionelle Erzählerinnen und Erzähler internationale Märchen vortragen. Anfangs sagten die Lehrkräfte oft: “Kinder können nicht 40 Minuten lang zuhören. Maximal sind es sieben Minuten, danach steigen sie aus.”
Die Erzählprojekte belegen laut Wardetzky das Gegenteil. Die Kinder seien begeistert, vor allem, weil Märchen nicht vorgelesen, sondern erzählt würden: “Gerade Kinder mit Migrationshintergrund können viel über Mimik und Gestik verstehen.” Das fördere Aufmerksamkeit und Konzentration, mache neugierig und Lust aufs Lesen. Märchen folgten in der Regel einem ähnlichen Muster, “aber dennoch ist jedes Märchen anders. Das löst Neugier aus und steigert die Wachheit beim Zuhören”.
Trotz unterschiedlicher Geschichten gibt es aus heutiger Sicht oft eine Gemeinsamkeit: Viele Märchen kommen ganz schön brutal daher mit abgeschlagenen Fersen, von Tauben ausgehackten Augen oder vergiftetem Obst. Für Expertin Wardetzky sind Märchen allerdings auch Mutmacher: “Die Hauptfiguren warten nicht auf ein Wunder, sondern handeln selbst. Auch Flucht bedeutet: Ich bin entkommen.” Und trotz so mancher böser Stiefmutter oder wachgeküsster Prinzessin können Märchen durchaus emanzipierte Frauenbilder vermitteln: “Es ist Gretel, die die Hexe schließlich in den Ofen schubst – und nicht Hänsel.”