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Liturgischer Leckerbissen

Seit 100 Jahren sind Briten ganz Ohr, wenn zu Weihnachten aus Cambridge das „Festival of Nine Lessons and Carols“ übertragen wird

Vor allem in der Adventszeit gibt es gute Gelegenheiten, anglikanisches Leben kennenzulernen. Etwa den traditionellen Weihnachtsbasar mit britischen Lebensmitteln wie Christmas Pudding, Chutneys und Currys, selbstgemachten Marmeladen, Knallbonbons („Christmas Crackers“), mit gebrauchten Büchern, Weihnachtskarten und Selbstgenähtem. Ein liturgisches Highlight feiert in diesem Jahr 100. Geburtstag: das „Festival of Nine Lessons and Carols“.
Bei diesem traditionellen Adventsgottesdienst wechseln neun Schriftlesungen ab mit den schönen englischen Weihnachtsliedern („Carols“), die aus vollem Herzen mitgesungen werden. Viele vor allem an­glikanische Gemeinden und Schulen haben die Liturgie inzwischen adaptiert und in ihr eigenes Gemeindeleben aufgenommen. Das „Original“ freilich stammt aus dem King‘s College in Cambridge, von wo es am Heiligabend über die BBC in alle Welt übertragen wird. 1918 war dort die Premiere.
Allerdings gab es eine Vorgeschichte aus Cornwall. Auf Vorschlag seines jungen Priesters George Henry Somerset Walpole, später Bischof von Edinburgh, feierte Edward White Benson, damals Gründungsbischof von Truro und später Erzbischof von Canterbury, 1880 am Heiligabend in seiner Behelfskathedrale einen Gottesdienst mit neun Lesungen und Weihnachtsliedern, an dem 400 Gläubige teilnahmen. Die Legende hält sich, dass die Erfindung einer bild- und gesangsreichen Liturgie vor allem dazu dienen sollte, die Männer zu Weihnachten aus den Pubs fernzuhalten.

In der Sprache der King-James-Bibel von 1611

1918 griff in Cambridge der Dekan Eric Milner-White die Idee auf, die „Entwicklung der Liebe Gottes zu den Menschen“ mit insgesamt neun markanten Bibelstellen nachzuzeichnen, vom Sündenfall Adams und Evas über den Propheten Jesaja bis zur Weihnachtsgeschichte von Bethlehem. Sie werden in der feierlich-archaischen Sprache der King-James-Bibel von 1611 verlesen.
Seit dem Folgejahr 1919 ist der Ablauf der Liturgie bis heute weitgehend unverändert geblieben; seit 1928 überträgt der Rundfunk, in den frühen 30er Jahren auch auf Kurzwelle. Über den „BBC Empire Service“ konnten (und können) selbst Forscherteams am Polarkreis oder Expats in Hongkong oder dem tiefen Afrika in den Genuss der Feier in Cambridge kommen. Heute übernehmen auch der australische Rund-funk und rund 300 US-Radiosender das Programm. Es gehört so fest zur englischen Weihnacht wie die Ansprache der Königin.
Das „Festival of Nine Lessons and Carols“ beginnt traditionell mit dem Lied „Once In Royal David‘s City“ (englisch: Einst in der königlichen Stadt Davids) und endet mit dem hymnischen „Hark! The Herald Angels Sing“ (englisch: Hört, die Engelsboten singen). Seit 1983 wird jedes Jahr ein neues, eigens komponiertes Carol einstudiert und aufgeführt.
Nur rund 650 Sitzplätze bietet die berühmte Kapelle des King‘s College – bei Weitem zu wenig für die zahlreichen Interessenten. Um halb acht morgens beginnt bereits der Einlass. Doch viele Fans stellen sich schon in der kalten Winternacht an. Immer-hin: Am Vormittag werden die Wartenden mit Weihnachtsliedern des Chores unterhalten – bis sich um halb zwei die Pforten der Kapelle öffnen: Weihnachten kann kommen.