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Leitkultur: Offener Diskurs auf Augenhöhe

UK 20/2017, Leitkultur (Seite 1: „Da bin ich zu Hause“, Seite 4: „Debatte um Thesen hält an“)
Jedesmal, wenn in Deutschland das Reizwort Leitkultur fällt, gibt es bei linksorientierten Zeitgenossen eine große Empörungswelle. Sofort wird damit eine migrationsfeindliche Ausgrenzung postuliert. Bei der jüngsten „Focus-Umfrage“ fordern 52,5 Prozent eine Leitkultur in unserem Land. Eine Minderheit von 25,3 Prozent ist strikt dagegen. Die Befürworter dürfen meiner Ansicht nach nicht in eine ausländerfeindliche oder gar rechtspopulistische Ecke gestellt werden, wie es leider oftmals bei dieser emotionalen Debatte geschieht. Ein offener Diskurs in Sachen Leitkultur ist nötig. Sie dient der soziopolitischen Selbstvergewisserung sowie einer Identitätsfindung in unserer verunsicherten Gesellschaft.
Als Beleg dafür kann man folgende historische Entwicklungsbeispiele aufzeigen: Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Begriff „Heimat“ jahrzehntelang bei unseren intellektuellen Eliten ein Unwort. Es galt als verbrannt durch die Blut- und Bodenideologie der Naziherrschaft. Durch die Studentenrebellion der 68er-Generation (Stichwort „Multikulti“) wurde weithin die Brauchtumspflege als spießig bis reaktionär bezeichnet, wie beispielsweise die Schützenfeste. Das Wort „Volk“ gilt bei vielen Linksliberalen als anachronistisch, obwohl am Reichstagsgebäude, das das demokratischste Parlament der deutschen Geschichte beherbergt, die Portalinschrift lautet „Dem Deutschen Volke“.
Bis zum Sommermärchen der Fußball-Weltmeisterschaft haben unsere schwarz-rot-goldenen Staatsfarben ein Schattendasein gefristet. Anscheinend wissen die wenigsten Flaggenkritiker, dass diese Fahne nach den napoleonischen Befreiungskriegen in der ersten Demokratisierungsepoche entstanden ist (Wartburgtreffen 1817 und Hambacher Fest 1832). Die gleiche distanzierte Haltung haben linksorientierte Meinungsführer gegenüber unserer Nationalhymne mit den zentralen Begriffen „Einigkeit und Recht und Freiheit“.
Diese Beispiele sollen beim Diskurs über die Leitkultur dazu dienen, dass die Gesinnungsethiker und die Verantwortungsethiker auf gleicher Augenhöhe die ganze inhaltliche Bandbreite diskutieren, von den National-Konservativen bis zu den Linksliberalen. In diesem Sinn können die Konfessionen und Religionen in unserem Land Kitt und kein Keil zwischen den gesellschaftlichen Milieus sein. Nur so kann der soziale Frieden in Deutschland gefördert werden.

Hermann Reyher, Kierspe