Albrecht Weinberg sieht seiner Ehrung am 20. September mit gemischten Gefühlen entgegen. „Es wird ganz toll werden“, sagt der 98-Jährige. Und fügt gleich an: „Aber schwer wird es für mich trotzdem.“ Nach seinem Geburtsort Rhauderfehn will auch das ostfriesische Leer den Holocaust-Überlebenden zum Ehrenbürger machen. Aus beiden Orten wurden Weinberg und seine Familie einst vertrieben, weil sie Juden waren. „Das kann ein normaler Mensch gar nicht verstehen, wie das deutsche Volk mit uns umgegangen ist“, sagt er heute. „Und alle haben es gesehen.“
Das frühere Haus der Familie Weinberg in Rhauderfehn stehe noch da wie damals, erzählt er am Telefon. Inzwischen erinnern Stolpersteine davor an seine Eltern, die in Auschwitz ermordet wurden. „Ein Grab haben sie nicht bekommen oder eine Beerdigung“, sagt Albrecht Weinberg. Heute lebt er in Leer, noch bis vor kurzem hat er regelmäßig in Schulen seine Geschichte erzählt. „Fast zehn Jahre lang, bestimmt zweimal im Monat“, zählt er auf. Jetzt reichen seine Kräfte dafür nicht mehr. „Ich würde gern weitermachen, aber ich kann nicht.“ Als Mahner gegen das Vergessen und Jahrhundertzeugen will die Stadt Leer ihn jetzt würdigen.
Weinberg überlebte drei Konzentrationslager
Albrecht Weinberg hat die Konzentrationslager Auschwitz, Mittelbau-Dora in Thüringen und Bergen-Belsen bei Celle überlebt. Und er gehört zu denen, die bis heute davon berichten können, wie auch in einem Dorf in Ostfriesland die Ausgrenzung begann, an deren Ende die Ermordung seiner Eltern stand. „Albi hat man mich als Kind genannt“, erzählt er. „Ihr dürft mit ihm nicht mehr spielen, er ist ein Jude“ – so wurde es auf einmal seinen Freunden eingeschärft. „Ich war elf Jahre alt, als ich in meinem Geburtsort Rhauderfehn nicht mehr auf eine deutsche Volksschule gehen durfte“, erinnert sich der 98-Jährige. Eine Zeit lang besuchte er die jüdische Schule in Leer, bis zur Pogromnacht im November 1938, als seine Familie zum Viehhof getrieben und schließlich deportiert wurde.
Sein Vater, ein Viehhändler, durfte sein Gewerbe nicht mehr ausüben. An den Geschäften hingen Schilder „Juden kein Zutritt“, berichtet Weinberg. „Wir wurden sozusagen in einen Schraubstock gespannt. Jeden Tag eine neue Umdrehung, bis man sich nicht mehr bewegen konnte.“ Als im April 1945 britische Truppen das Lager Bergen-Belsen befreiten, lag Albrecht Weinberg, gerade 20 Jahre alt, inmitten von Leichen. Mit einem Viehwaggon war er Tage zuvor auf einem Räumungstransport vom Lager Mittelbau-Dora über Neuengamme bei Hamburg in das niedersächsische KZ verfrachtet worden. „Da war ich 99 Prozent ein Toter“, sagt er.
Von New York zurück nach Leer
In Bergen-Belsen starben mehr als 52.000 KZ-Häftlinge und rund 20.000 Kriegsgefangene. Diejenigen, die sich ins Leben zurückkämpften, waren heimatlos geworden wie Albrecht Weinberg. Mehr als 40 seiner Angehörigen wurden ermordet. „Wir konnten nirgends hin. Die ganze Welt war mit Brettern vernagelt.“ 1947 gelangten Albrecht und seine Schwester Friedel schließlich nach New York. Am Broadway betrieb er einen Fleischerladen. Die Geschwister blieben zusammen und schworen einander: „Jemanden heiraten, das wäre okay.“ Aber nach all dem, was sie hinter sich hatten, jüdische Kinder in die Welt zu setzten, „das kam für uns nicht infrage“. Als die Stadt Leer in den 1980er-Jahren frühere jüdische Bürger einlud, besuchten die Geschwister ein erstes Mal wieder Ostfriesland. Nachdem Friedel einen Schlaganfall erlitt, kehrten sie 2012 endgültig zurück – in ein Altersheim in Leer, wo die Schwester später starb.
Albrecht Weinberg lebt inzwischen in einer Wohngemeinschaft bei Gerda Dänekas, die ihn früher im Heim als Pflegerin betreut hatte. In Rhauderfehn wurde eine Schule nach ihm benannt. „Mein Bestreben ist, dass er merkt, dass wir ihm zugetan sind, und seinen Frieden findet“, sagt die 74-jährige Dänekas. „Jetzt hat er doch noch eine Familie. Er ist sozusagen der Urgroßvater bei uns.“ Manchmal schleichen sich bei Albrecht Weinberg noch englische Worte ein, auch wenn er von den Mädchen und Jungen spricht, die er bei seinen Vorträgen getroffen hat: „Die Kinder, die Schüler sind einfach tough“, sagt er: „Ganz wunderbar.“ Bei einigen von ihnen seien seine Worte wohl hängen geblieben, hofft er. Es sei eine andere Mentalität heute. „Aber der Antisemitismus hat wieder den Kopf erhoben, wie eine giftige Rattlesnake – eine Schlange.“