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Leben als erweiterte Liturgie

Eine alte anglikanische Gottesdiensttradition wird zur Zeit in Deutschland neu entdeckt: der Choral Evensong. Worin die Anziehungskraft dieses gesungenen Abendlobs liegt, erklärt Kirchenmusiker Ulrich Stötzel aus Siegen

picture alliance / empics

Orgelvorspiele, Choräle und liturgische Gesänge – die traditionelle Musik in evangelischen Gottesdiensten wird von vielen Menschen mit Argwohn betrachtet: Zu altmodisch, zu kompliziert, zu widerspenstig in Sprache und Melodieführung scheint sie.

Umso erstaunlicher ist die Neuentdeckung einer alten Gottesdiensttradition, die aus der anglikanischen Kirche stammt: des Choral Evensongs. Dieses „Abendlob“ ist ein weitgehend gesungener Gottesdienst, der überwiegend von einem Chor gestaltet wird; nur einzelne Liedverse übernimmt auch die Gemeinde. Die Predigt ist auf einen kurzen Gedankenanstoß reduziert, gefolgt von einer Zeit der Stille. Was macht diese liturgisch durchstrukturierte und gleichzeitig meditative Form so anziehend?

Eine liturgische Tradition wird wiederentdeckt

„Ganz oft habe ich nach dem Gottesdienst gehört: ,Ich gehe anders heraus, als ich hineingegangen bin‘“, erzählt Ulrich Stötzel. Der Kirchenmusiker hat den Evensong vor zwei Jahren an der Martinikirche in der Siegener Innenstadt eingeführt; zweimal im Jahr ist die Kirche dann mit rund 250 Besucherinnen und Besuchern gut gefüllt. Die Zuhörerschaft ist bunt gemischt, hat Stötzel beobachtet: Mitglieder von Freikirchen kommen ebenso wie Kirchenferne, die sich vor allem für die Musik interessieren. Alle lassen sich ein auf die festliche Inszenierung der Liturgie, zu der neben der klassischen Kirchenmusik auch der Einzug der Sängerinnen und Sänger in Chorgewändern gehört. „Man muss dann auch gar nicht viel zum Ablauf erklären“, sagt Stötzel. „Die alte Form erschließt sich von selbst.“
Die Ursprünge des Evensongs liegen in der Zeit der Reformation in England, als König Henry VIII. mit dem Papst in Rom brach, um sich scheiden lassen zu können. Die Gründung der Church of England im Jahr 1534 führte zu einer Liturgiereform: Die englische Sprache wurde im Gottesdienst zur Pflicht, und die Tradition des Stundengebetes wurde erheblich reduziert. Statt der zuvor acht Gebetszeiten gab es jetzt nur noch die Mattins als Morgen- und den weitaus beliebteren Evensong als Abendgebet. Die Gestaltung der musikalisch anspruchsvollen Liturgie war weitgehend Chören übertragen, die vor allem an großen Kathedralen beheimatet waren.
Seine heute bekannte Form erhielt der Evensong im 19. Jahrhundert, als – ähnlich wie in Deutschland – die „alte“ Kirchenmusik nach einer Phase der Vernachlässigung wiederentdeckt wurde. Charakteristisch ist zum Beispiel die Rolle der Orgel, die bei den groß angelegten Chorstücken die Rolle eines Orchesters übernimmt. Auch typisch: Sowohl der Lobgesang der Maria, das „Magnificat“, als auch der Lobgesang des Simeon, das „Nunc dimittis“, gehören zur festen Liturgie – in Siegen abwechselnd als einstimmige gregorianische Melodie und als mehrstimmiges Chorstück vorgetragen.
Eine Predigt war in der ursprünglichen Version des Abendlobs nicht enthalten. Im reformiert geprägten Siegen ist das nicht ohne Weiteres möglich, und Ulrich Stötzel sieht den Gedankenanstoß auch als Chance, die Leute zu erreichen, die sonst nicht in die Kirche kommen. „Aber ich sage immer: höchstens fünf Minuten!“, betont der Kirchenmusiker. „Viel wichtiger ist die Stille danach. Die wird von den Leuten als unglaublich wohltuend wahrgenommen.“ Ebenso wie der Gesang des Chores, dem man einfach nur lauschen darf. Stötzel greift dabei auf die ganze Fülle der kirchenmusikalischen Tradition zu: Neben den schlichten gregorianischen Gesängen erklingen romantische englische Chorstücke, Barockmusik und Taizé-Lieder. Nur die Popmusik bleibt im Evensong ausgenommen.

Die Tageszeiten in Gebeten begleiten

In den großen englischen Kathe­dralen erklingt die gesungene Liturgie an jedem Abend; dort gibt es allerdings auch professionelle Chöre, die häufig an eine Schule angeschlossen sind. Stötzel und der Bachchor Siegen schaffen im Moment nicht mehr als zwei Evensongs pro Jahr. Stötzel träumt aber davon, das Angebot auf viermal im Jahr zu erhöhen. Die Tradition der Stundengebete, die jede Tageszeit mit einem Gebet begleiten, hat ihn schon als junger Student angezogen. „Leben als erweiterte Liturgie – das ist für mich ein ungeheuer faszinierender und inspirierender Gedanke.“

Der nächste Choral Evensong in der Martini-Kirche in Siegen findet am 1. Advent, dem 29. November, um 18 Uhr statt. Der Bachchor Siegen hat unter der Leitung von Ulrich Stötzel eine CD mit einem Choral Evensong aufgenommen: „Bleib bei mir Herr. Choral Evensong“, erschienen bei Gerth Medien, 17,99 Euro.