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Lange Geschichte einer Verbannung

1941 wurden die Russlanddeutschen zwangsumgesiedelt. Man befürchtete, sie könnten mit der Wehrmacht kollaborieren

Nach dem Überfall von NS-Deutschland auf die Sowjetunion wurden Russlanddeutsche ab Mitte August 1941 nach Kasachstan und Sibirien deportiert. Es ist eine Geschichte, in der es um Tote, Hunger, Zwangsarbeit und ein Leben mit Rissen und Brüchen geht.

Nürnberg/Detmold. Zu Nachbarn, die die Hunde auf sie hetzten, ist die kleine Olga nicht mehr zum Betteln gegangen. „Aber andere waren gut und haben gegeben“, erzählt die alte Dame. Sie sitzt mit blassem Gesicht in einem bunten Kleid in ihrer Nürnberger Mietwohnung. Neben dem Sofa ihr Atemgerät, an den Wänden ungezählte gerahmte Familienfotos. Olga Kutscher, damals sechs Jahre alt, und ihre ganze Familie mussten 1941 nach dem sogenannten Stalindekret die wolgadeutsche Heimat verlassen.

Die Älteren mussten über 50 Kilometer gehen, Kinder und Mütter wurden in Viehwaggons verfrachtet, wie sie sich erinnert. Nur einige Kleidungsstücke durften sie nach Sibirien mitnehmen. Und die hätten sie schon bald gegen etwas Essbares eingetauscht. „Zwischen 1941 und 1956 haben wir uns nicht ein einziges Mal sattgegessen“, schildert sie ihre Jugend. Es war die Zeit, in der sie betteln gehen musste.

Man habe in der sogenannten Sondersiedlung in Erdlöchern gehaust, auf die sie nach und nach Hütten gebaut hätten. Für schwere Arbeit im Bergbau, bei der Ernte oder in einer Fleischerei hätten sie und ihre Eltern keinen Lohn gesehen. Den Wohnort zu verlassen war verboten, Deutsch durfte unter Strafandrohung nicht gesprochen werden.

Etwa 900 000 Menschen waren im Herbst 1941 von der Deportation aus dem europäischen Teil der UdSSR, aus Georgien, Armenien und Aserbaidschan und der anschließenden Zwangsarbeit betroffen. Die sowjetische Regierung unter Josef Stalin befürchtete eine Kollaboration der Russlanddeutschen mit der deutschen Wehrmacht, nachdem Nazideutschland im Juni die Sowjetunion überfallen hatte.

Rund 350 000 Menschen kamen in Arbeitslager, mindestens 150 000 Menschen verloren ihr Leben, sagt  das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat in einem umfangreichen Dossier die Geschichte der Russlanddeutschen dargestellt.

Die Erwachsenen mussten in Bergwerken, bei Waldrodungen, in der Rüstungsindustrie und im Schienenbau schuften. Ihre Kinder dienten als Melker und Viehhirten. Aufgehoben wurde die Verbannung, die ursprünglich als „ewig“  ausgerufen worden war, im Jahr 1956, als Nikita Chruschtschow die Entstalinisierungsphase einleitete.

Die Vorfahren der Russlanddeutschen waren ab dem 18. Jahrhundert als Siedler nach Russland gekommen. Das sogenannte Kolonistenprivileg versprach ihnen eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Sonderstellung. Aber schon vor der Oktoberrevolution von 1917 begann ihre Unterdrückung.

22 Jahre Zwangsarbeit in Stalins Lagern

David Löwen, Lehrer in München, hat sich in die Geschichte seiner Familie eingelesen, die einst ein Gut in einer Kolonie der heutigen Ukraine hatte, wie er erzählt. Ein Familienfoto vom Beginn des 20. Jahrhunderts zeigt ein stolzes Elternpaar mit neun Kindern. Ganz rechts außen steht David Löwens Großvater, Johann Nickel. Er wird Ende der 1920er Jahre von der Familie beauftragt, das sozialisierte Gut wieder zurückzugewinnen, während die restliche Familie nach Deutschland geht oder nach Kanada auswandert. Wegen Briefen, die er verbotenerweise an seine Verlobte in deutscher Sprache schreibt, wird dann der junge Mann 1935 zur Zwangsarbeit verurteilt, so erzählt es Löwen. 22 Jahre habe er verbüßt, bis er 1956 freigekommen sei.

Da habe der große Mann 50 Kilogramm gewogen, sagt der Enkel. Als Christ habe er sich nicht dem Hass hingeben können, wird aus den Lebenserinnerungen deutlich, die Nickel aufgeschrieben hat. Löwen bewahrt die mit ordentlichen, gleichmäßigen Buchstaben geschriebene Kladde seines Großvaters.

„Die meisten Menschen in der Bundesrepublik denken beim Wort Russlanddeutscher, das ist ein Russe, der jetzt in Deutschland lebt“, stellt David Löwen fest. Über eine Minderheit, der in Deutschland rund 2,5 Millionen Menschen angehörten, wüssten selbst die Spitzenpolitiker nichts, kritisiert er.

1990 ist Löwen mit den Großeltern, den Eltern und acht Geschwistern als Aussiedler aus Miass, einer Bergbaustadt im Uralgebirge, in die Nähe von Bielefeld gekommen. Er habe „keine richtige Heimat“, stellt er fest. Obwohl er russischsprachig aufgewachsen sei, habe er – gerade wenn die Älteren Plattdeutsch zu sprechen begannen – im Unterbewusstsein als Kind gespürt: „Ich gehöre hier nicht hin.“ Und in Deutschland wiederum seien die Aussiedler „die Russen“ gewesen.

Das Erlebte hat deutliche Spuren hinterlassen

„Die Wunden, die der deutschen Bevölkerung in der Sowjetunion über Jahrzehnte zugefügt wurden, konnten oft nicht verheilen, und zeichnen bis heute als generationsübergreifende Traumata deutliche Spuren in viele Familien“, sagt die Slawistin und Nürnberger Aussiedlerseelsorgerin Sabine Arnold. Viele hätten ihr erzählt, wie sie in der Sowjetunion als „Fritzy“ oder „Faschisty“ von Lehrern verunglimpft worden seien. Auch mit Behörden-Gängelung hätten Menschen rechnen müssen, die einen Pass gehabt hätten, aus dem die deutsche Abstammung zu ersehen gewesen sei.

Auch Olga Kutscher spürt diese Brüche. Sie ist 2003 als Spätaussiedlerin nach Franken gekommen. „Nürnberg ist meine zweite Heimat“, sagt die 86-Jährige. „In die erste Heimat, ich tät gerne hin, aber ich schaff's nicht mehr.“

• Bundeszentrale für politische Bildung: www.bpb.de, Suchwort „Dossier Russlanddeutsche“; Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte Detmold: www.russlanddeutsche.de