Die Gräueltaten der nationalsozialistischen Herrschaft hätten nach Ansicht des rheinland-pfälzischen Landtagspräsidenten Hendrik Hering (SPD) verhindert werden können, wenn sie nicht auf so große Zustimmung gestoßen wären. Die meisten Deutschen seien aber überzeugte Nazis oder zumindest Mitläufer gewesen, sagte er am Samstag bei der offiziellen Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus im Mainzer Landtag: „Auch wenn es weh tut: Die Bilder von Täterinnen und Tätern finden sich in den meisten alten Familienfotoalben.“
Vor dem Faschismus sei auch heute niemand sicher, sagte Hering mit Blick auf die aktuellen Anti-Rechts-Demonstrationen. Die demokratischen Errungenschaften könnten schnell wieder verloren gehen, warnte er. Auch die stellvertretende Ministerpräsidentin Katharina Binz (Grüne) forderte, jetzt gegen Rechtsextremismus zu protestieren, damit sich die Geschichte nicht wiederhole.
Bei der zentralen Gedenkfeier des Landes standen in diesem Jahr erstmals Menschen im Mittelpunkt, die als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ verfolgt worden waren und erst 2020 offiziell als Opfer des NS-Regimes anerkannt wurden. Dazu zählten nach dem nationalsozialistischen Weltbild Tagelöhner, Wohnungslose, Prostituierte, Fürsorgeempfänger sowie Sinti und Roma. Deren Kinder waren teils noch bis in die 1950er Jahre willkürlich und gegen den Willen ihrer Eltern in Jugendeinrichtungen festgehalten worden.
Als Gastredner schilderte der Diplom-Mathematiker und Buchautor Alfons Ludwig Ims, dessen Vater im Armenviertel Kalkofen in Kaiserslautern lebte und nach dem NS-Sprachgebrauch als „moralisch minderwertig“ galt, die Geschichte seiner Familie. Die NS-Behörden hatten seinem Vater und dessen erster Frau staatliche Fürsorge verweigert, weil ihre Armut „Ausdruck minderwertiger Erbanlagen“ sei. Zwei seiner Geschwister entgingen dem Euthanasie-Mordprogramm der Nazis nur, weil ein Bombenangriff auf Frankenthal die Pläne durchkreuzt habe. „Aus Sicht der Nazis war Asozialität erblich“, sagte Ims. „Arisch zu sein, war notwendig, aber nicht hinreichend.“
Nach dem Ende des NS-Regimes habe die Ausgrenzung sozial Benachteiligter fortgedauert. Ausdruck dafür sei bereits der Umstand, wie selbstverständlich der NS-Begriff „asozial“ weiter verwendet und Menschen wegen vermeintlich „verminderter Leistungsfähigkeit“ stigmatisiert würden. Der Sozialwissenschaftler Frank Nonnenmacher beklagte, dass es lange Zeit kein Interesse an den verfolgten „Asozialen“ gegeben habe: „Sie kamen im staatlichen Gedenken nicht vor.“ Vielen sei ihr Leben lang suggeriert worden, sie hätten zu Recht in Konzentrationslagern gesessen.
Der 27. Januar ist seit 1996 in der Bundesrepublik offizieller Gedenktag für die Opfer der NS-Herrschaft. Am 27. Januar 1945 waren die überlebenden Häftlinge des Vernichtungslagers Auschwitz von Soldaten der sowjetischen Roten Armee befreit worden. Der Landtag von Rheinland-Pfalz kommt seit 1998 am Jahrestag der Befreiung zu einer Sondersitzung zusammen.