Artikel teilen

Kulturwissenschaftlerin: Gemeinsinn statt Individualisierung

Mehr Mitmensch sein, weniger Individualist – das sei für Bürger in einer Demokratie wichtig, sagt die Wissenschaftlerin Aleida Assmann. Und sie warnt: “Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich”.

Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat zum Erhalt der Demokratie für mehr Mitmenschlichkeit geworben. Der öffentliche Diskurs sei bestimmt “von einem schrillen parteipolitischen Gezänk, das meist der eigenen Profilierung” diene, sagte Assmann am Mittwochabend in Münster. Das verhindere ein gemeinsames Nachdenken über konstruktive Lösungen. Die vielfach ausgezeichnete Wissenschaftlerin forderte parteiübergreifend mehr Gemeinsinn.

Eine Demokratie lebe nicht allein von Gesetzen, sondern diese müssten durch gemeinsinnige Bürgerinnen und Bürger gestützt werden, so die Kulturwissenschaftlerin. Konkret nannte sie lokale Bewegungen, Nachbarschaftshilfe und bürgerschaftliches Engagement.

Assmann forderte dazu auf, sich auf Menschenbild zu besinnen, das den Menschen als Beziehungswesen anerkenne und nicht als radikalen Individualisten. Sie warnte außerdem vor Diffamierung und Abschreibung von Menschen als gleichwertige Mitmenschen. Früher seien Juden abgewertet worden, heute seien es vulnerable Gruppen wir Migranten und ethnokulturelle Minderheiten. “Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich”, sagte Assmann.

Eine besondere Rolle kommen Jubiläen und Gedenktage in einer Gesellschaft zu. “Sich an sie immer wieder zu erinnern, ist eine wichtige demokratische Aufgabe”, sagte die für ihre Forschung zum Erinnern bekannte Wissenschaftlerin. Vergangene Ereignisse seien dazu bestimmt, die Gegenwart weiter zu prägen. In Deutschland sei die Erinnerung an den Nationalsozialismus von besonderer Bedeutung, die auch für Zuwanderer wichtig sei. “Auch sie müssen wissen, was in diesem Land geschehen ist, was die Deutschen hinter sich haben und auf keinen Fall wiederholen wollen”, so Assmann.

Gemeinsam mit ihrem in Februar verstorbenen Mann Jan entwickelte Aleida Assmann die “Theorie des kulturellen Gedächtnisses”. Dabei gehen sie davon aus, dass es nicht nur das individuelle Gedächtnis von einzelnen Menschen gibt. Es gebe auch das kollektive Gedächtnis von Gesellschaften und Nationen – geprägt durch überlieferte Texte und Erzählungen, gewonnene Erfahrungen über Hunderte und Tausende von Jahren. Solche Erzählungen sind nach Auffassung der Kulturwissenschaftler zentral für das Selbstverständnis heutiger Gesellschaften.

Assmann sprach im Dom von Münster in der Reihe “DomGedanken”. Sie steht in diesem Jahr unter dem Motto “Zeitenwende! Wie damit umgehen?”. In der Reihe werden in den kommenden Wochen außerdem beispielsweise der Meteorologe Frank Böttcher sowie der Berliner Kultursenator Joe Chialo (CDU) sprechen.