Zum zweiten Mal fordert ein Missbrauchsopfer ein hohes Schmerzensgeld vom Erzbistum Köln. Im Gegensatz zum ersten Prozess könnte die Klägerin nun leer ausgehen. Fachleute und Betroffene kritisieren deshalb das Gericht.
Im Schmerzensgeldprozess einer Missbrauchsbetroffenen gegen das Erzbistum Köln gibt es massive Kritik an der Haltung des Kölner Landgerichts. “Würde die Auffassung des Richters Schule machen, dann hätten Betroffene in Deutschland keine zivilrechtliche Chance”, sagte der in Münster lehrende Kirchenrechtler Thomas Schüller der “Kölnischen Rundschau” (Donnerstag).
Auch die Kirchenrechtler Norbert Lüdecke und Bernhard Sven Anuth kritisierten die Andeutung des Richters, das Erzbistum müsse vermutlich nicht für die Missbrauchstaten eines Priesters haften, weil er diese nicht in der Ausübung seines Dienstes begangen habe.
Das ganze Tatgeschehen sei nur möglich, wo Priester ihre Rolle als Seelsorger ausnützten, “um die Opfer körperlich und geistig verfügbar zu machen”, kritisierte Schüller. Es sei “realitätsfern und pervers”, davon auszugehen, dass ein Priester seine Opfer zwar im dienstlichen Kontext rekrutieren könne, sie dann aber privat vergewaltige.
Opferanwalt Eberhard Luetjohann sagte der Zeitung, die Argumentation des Gerichts laufe auf einen “Freibrief” für die Kirche hinaus: “”Dann können Priester eigentlich machen, was sie wollen – die Kirche ist immer außen vor.”
Der emeritierte Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke, der bei der Verhandlung am Dienstag als Zuschauer im Gerichtssaal saß, sagte dem “Kölner Stadt-Anzeiger”, das Gericht ignoriere entscheidende Gesichtspunkte: “Als Kleriker übernimmt der Priester die rechtliche Verpflichtung, sein Leben auf eine bestimmte Weise zu führen.” Sexueller Missbrauch sei fraglos ein Verstoß gegen die priesterlichen Pflichten. Zur Amtspflicht eines Bischofs wiederum gehöre es, die Lebensführung seiner Priester zu überwachen und auf die Einhaltung ihrer Pflichten zu achten.
Der als sachverständiger Zeuge anwesende Tübinger Kirchenrechtler Bernhard Sven Anuth sprach von einem “völlig schrägen” Ansatz” des Gerichts: “Wenn der Richter meint, als Vertreter des Staates über das kirchliche Amtsverständnis urteilen zu können, ist das ein Verstoß gegen die Neutralitätspflicht des Staates.”
Der Sprecher der Betroffenen-Initiative “Eckiger Tisch”, Matthias Katsch, kritisierte, das Gericht hebe auf der einen Seite die Autonomie der Kirche und ihres Amtsverständnisses hervor, “dann aber gehört es nicht zum Amt und zur Amtsausübung, wenn der Täter seinem Opfer nach dem Missbrauch noch selbst die Beichte abnimmt. Das ist absurd.”
Das Gericht will seine Entscheidung am 17. September bekannt geben. Die 57-jährige Klägerin war Pflegekind eines Priesters und wurde von ihm mehrfach vergewaltigt. Sie klagt auf ein Schmerzensgeld von rund 850.000 Euro. Die Kirche hatte der Frau in ihrem freiwilligen System zur Anerkennung des Leids 70.000 Euro gezahlt.
Am Dienstag ging es vor allem darum, ob die Amtshaftung des Erzbistums nicht nur den dienstlichen, sondern auch den privaten Bereich eines Priesters umfasst. Dabei ließ der Richter erkennen, dass das Erzbistum vermutlich nur dann als Dienstherr für die Taten eines Priesters zu belangen sei, wenn diese im Rahmen seines Dienstes ausgeführt wurden. Im konkreten Fall habe aber nicht das Erzbistum dem Priester die Obhut über die Klägerin und ein weiteres Pflegekind überlassen, sondern das zuständige Jugendamt. Zudem erstrecke sich die allgemeine Kontrollpflicht des Bistums auf dienstliche Belange seiner Priester, nicht aber auf Privates. Die Anwälte der Frau argumentieren dagegen, dass ein Priester nach katholischem Selbstverständnis immer im Dienst sei.
Der inzwischen aus dem Klerikerstand entlassene Priester wurde 2022 vom Landgericht Köln wegen hundertfachen Missbrauchs unter anderem seiner Nichten zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Im vergangenen Jahr hatte dasselbe Gericht in einem anderen Schmerzensgeldprozess gegen das Erzbistum Köln ein wegweisendes Urteil gefällt: Einem früheren missbrauchten Messdiener, der von der Kirche 25.000 Euro bekommen hatte, sprach es 300.000 Euro zu. Das ist die bisher höchste Schmerzensgeldsumme, die ein deutsches Gericht einem Opfer sexualisierter Gewalt in der Kirche zuerkannt hat.