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Krawalle in England – Resultat einer gespaltenen Gesellschaft

Die Lage in Großbritannien droht weiter zu eskalieren. Seit über einer Woche erschüttern rechtsradikale Krawalle das Land. Die Regierung verspricht ein hartes Vorgehen. Aber das Problem reicht viel tiefer.

Die neue Labour-Regierung unter Premier Keir Starmer steht angesichts der fremdenfeindlichen Unruhen im Land vor ihrer ersten Krise. Dabei spielte das Thema Migration vor den britischen Parlamentswahlen Anfang Juli keine entscheidende Rolle. Das marode Gesundheitssystem, hohe Lebenshaltungskosten und Lohndebatten trieben den Sozialdemokraten die Wähler zu. Dagegen konnten die Konservativen im Wahlkampf nicht mit dem Versprechen punkten, Asylzahlen zu senken, Migrantenboote über den Kanal zu stoppen und Abschiebungen zu forcieren – zumal sie damit längst gescheitert waren. Seit 2021 stieg die Zahl der Asylbewerber jährlich auf zuletzt mehr als 84.000.

In bestimmten Milieus der unteren Mittelschicht und der weißen Arbeiterklasse befeuert das eine Radikalisierung, die seit etwa 15 Jahren zugenommen hat. Dafür stehen kleine, aber aggressive Gruppierungen wie die rechtsextreme British National Party oder die islamfeindliche English Defence League. Deren einstiger Chef Tommy Robinson (41) – eine Art englischer Martin Sellner in Hooligan-Ausgabe – genießt unter Asylgegnern Kultstatus.

Manche Beobachter führen “Fake News” in den Sozialen Medien, die zu den tagelangen Ausschreitungen auf der Insel und der Eskalation am Wochenende beitrugen, direkt auf ihn zurück. Der 17-Jährige, der am 29. Juli in Southport drei Mädchen bei einem Tanzkurs mit einem Messer ermordet und viele verletzt hatte, sei muslimischer Asylbewerber, hieß es da. Tatsächlich wurde der Täter, dessen Eltern aus dem überwiegend christlichen Ruanda stammen, in Cardiff geboren. Mehr gab die Polizei bisher nicht bekannt, auch kein Motiv für die Tat.

Fest steht aber: Die Bilanz der einwöchigen Krawalle ist seit Beginn der Flüchtlingskrise vor rund zehn Jahren europaweit beispiellos. In Manchester, Liverpool und anderen englischen Städten rotteten sich teils hunderte Menschen unter dem Motto “Genug ist genug” zusammen, griffen Moscheen und Asylunterkünfte an, zerstörten Geschäfte, bedrohten verängstigte Muslime und Migranten. Mehr als 400 Randalierer wurden festgenommen, Dutzende Polizisten verletzt. Plötzlich taucht mitten im kosmopolitischen Großbritannien ein Begriff auf, den man in Europa lange hinter sich glaubte: Pogrom.

“Das ist kein Protest, das ist Gewalt”, erklärte Premierminister Starmer am Montag nach einer Sitzung des Krisenstabs. Verantwortlich sei eine winzige Minderheit rechter Mobs, die in keiner Weise die britische Gesellschaft repräsentiere. Er kündigte laut BBC einen Großeinsatz der Justiz, die volle Härte des Gesetzes für die Täter und ein “stehendes Heer” von Beamten an. Auch den Ausbau von Gesichtserkennung auf den Straßen und schärfere Kontrollen im Internet brachte der Premier ins Spiel.

Fraglich ist allerdings, ob die Labour-Regierung das tieferliegende Problem ethnischer Spannungen allein mit den Mitteln des starken Staats ausreichend adressiert. Wie in anderen westlichen Gesellschaften fühlen sich auch gemäßigte Teile der weißen britischen Bevölkerung von der Zuwanderung nicht nur kulturell und wirtschaftlich bedroht, auch das Sicherheitsgefühl auf der Insel erodiert. Mehr als 50.000 Messerangriffe in einem Jahr zählte die Polizei zuletzt. Aus Sicht der Migrationsgegner sind sie das logische Resultat einer ideologischen Politik, die ihre Heimat auf Biegen und Brechen zu einer multikulturellen Zone machen will.

Hinzu kommt das offenbar verbreitete Gefühl einer “Politik der doppelten Standards”. Während besonders Muslime aus Angst vor Rassismusvorwürfen mit größter Toleranz rechnen könnten, gingen Staat und Medien gegen weißen Protest hart zur Sache. In Sozialen Medien findet sich häufig der Vergleich zwischen den zurückweichenden Polizisten während der migrantischen Krawalle in Leeds am 18. Juli und robusten Einsätzen gegen die Gewalttäter aus der vergangenen Woche. Starmer erklärte, es gebe nur “Polizeiarbeit ohne Bevorzugung”.

Videos auf Social Media zeigen neben alkoholisierten Hooligan-Typen viele normale Bürger. “Ich bin keine Rechtsextremistin”, beteuert da eine Frau energisch, “aber ich will, dass der Staat endlich die Kinder schützt”. Vielerorts bildeten sich auch Gegenproteste von Menschen mit “Refugees welcome”-Schildern. Solidarität kommt auch von christlichen Kirchen. So verurteilte der Flüchtlingsbischof der katholischen Bischofskonferenz von England und Wales, Paul McAleenan, die Exzesse. Die Taten weniger stünden im Gegensatz zum Einsatz von Flüchtlingshelfern und kirchlicher Gruppen, die Migranten unermüdlich die Hand reichen.

Man muss den Bürgerkrieg nicht für “unausweichlich” halten, wie Elon Musk dies am Montag auf seiner Online-Plattform X tat und damit Empörung in London auslöste. Doch die Woche der Gewalt hat die Polarisierung im Land dramatisch beschleunigt. Das zeigt sich inzwischen auch an Überfällen muslimischer Gruppen auf Weiße. Der Anführer der rechtspopulistischen Partei Reform UK, Nigel Farage, hält bereits den Einsatz der Armee für denkbar.