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Kraftquelle und Sprungbrett

Großes Finale am 31. Oktober: Mit dem Reformationstag finden zehn Jahre Erinnerung und Vergegenwärtigung der Erneuerung der Kirche ihren Höhepunkt und Abschluss. Was hat‘s gebracht? Und wie geht‘s weiter? Fragen an die westfälische Präses Annette Kurschus

ja

Fast geschafft: Das Jubiläum „500 Jahre Reformation“ geht zu Ende. Evangelische Kirche auf allen Kanälen – das war mehr, als viele erwartet hatten. Aber es gab auch Kritik: Die eigentliche Botschaft der Reformation gehe im Medienrummel unter. Was bleibt am Ende des Veranstaltungsmarathons? Gerd-Matthias Hoeffchen fragt die leitende Theologin der Evangelischen Kirche von Westfalen, Präses Annette Kurschus.

Die Reformationsdekade geht auf ihren Höhepunkt und Abschluss zu am 31. Oktober. Zehn Jahre Reformationsgedenken: War das ein Erfolg?
Sagen wir lieber: Wir haben in den Kirchengemeinden, in den Kirchenkreisen, auf landeskirchlicher Ebene und EKD-weit viele Anstöße gegeben, die wesentlichen Impulse der Reformation neu zum Leuchten zu bringen und für die aktuellen Herausforderungen der Gegenwart fruchtbar zu machen. Eng verbundene Kirchenmitglieder ebenso wie Menschen, die der Kirche eher kritisch und distanziert gegenüberstehen, haben neue Entdeckungen in und mit ihrer evangelischen Kirche gemacht. Und dabei hoffentlich erfahren: Evangelische Identität entsteht nicht zuerst aus der Abgrenzung gegenüber anderen oder gar aus der Abwertung anderer. Im Gegenteil: Evangelische Identität wächst in lebendiger Beziehung, im angstfreien Gegenüber, im offenen Dialog und im gemeinsamen Tun mit anderen.
Im Jubiläumsjahr wurden die Themen der vorausgegangenen Dekaden-Jahre noch einmal verdichtet und gebündelt. Das geschah in einem beeindruckenden Reigen von Aktivitäten und Veranstaltungen. Ich habe dankbar gestaunt, was die Gemeinden und Kirchenkreise und Einrichtungen unserer Landeskirche da alles auf die Beine gestellt haben. Und wie viele Menschen aktiv und kreativ im Einsatz waren.

Das Jahr 2017 hat  jetzt noch mal den individuellen Aspekt betont.
Ja und nein. Unser westfälisches Motto „Einfach frei“, das augenzwinkernd an den einmaligen bundesweiten gesetzlichen Feiertag am 31. Oktober 2017 anknüpft, mag auf den ersten Blick dazu verleiten, die von den Reformatoren wiederentdeckte Freiheit rein individualistisch zu verstehen. Tatsächlich kommt die Tiefe reformatorisch verstandener Freiheit aus der geschenkten Gerechtigkeit Gottes.
Martin Luther beschreibt sie in seiner großen Freiheitsschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ mit einem scheinbaren Widerspruch: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.“ Und: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Christus hat mich – und nicht nur mich! – aus der Sorge um mich selbst herausgeliebt: Soweit der individuelle Aspekt von „Einfach frei“. Daraus folgt: Ich bin befreit und damit frei für andere – also mitverantwortlich für ein Leben auf dieser Erde, in dem alle Menschen zu ihrem Recht kommen.

Die Botschaft der Reformation ist 500 Jahre alt – genau genommen sogar 2000 Jahre. Und gar nicht so leicht in einen einzigen Satz zu fassen. PR-Fachleute sagen, um eine Botschaft ans Volk zu bringen, braucht man die Zuspitzung. Wie bekommt man das hin: theologisch verantwortlich zu reden und gleichzeitig zuzuspitzen?
Wer zuspitzt, bringt die Sache auf den Punkt, ohne zu banalisieren. Wer zuspitzt, braucht den Mut, etwas klar zu benennen – in dem Bewusstsein, Einseitigkeit zu riskieren und doch den Kern zu treffen. Das ist in der Tat hoch anspruchsvoll. Und darin liegt im Blick auf die Bedeutung der Reformation große theologische Verantwortung. Alles, was wir sagen und tun, bleibt ein Versuch, dieser Verantwortung annähernd gerecht zu werden.
Die Botschaft der Reformation in einen einzigen Satz zu fassen halte ich für ebenso unmöglich, wie das Evangelium in einem einzigen Satz zu sagen. Deshalb eignen sich Glaubensaussagen weder für simple Schlagzeilen noch für plakative Balkenüberschriften. Das macht insbesondere die mediale Vermittlung unserer Botschaft zu einer besonderen Herausforderung. Wir brauchen theologische Redlichkeit und Sorgfalt, Echtheit des eigenen Glaubens und Zweifelns – und wache Sinne für die Welt und die Menschen um uns herum.

Wie ist das mit den Menschen, die nicht so ganz nah an der Kirche dran sind?
Manche von ihnen haben nach eigener Aussage im Zuge der Reformationsdekade und des Jubiläumsjahres neuen Zugang gefunden zu Fragen des persönlichen Glaubens und der christlichen Weltverantwortung.
Dazu haben auf ihre Weise wohl unter anderem auch die zahlreichen Ausstellungen beigetragen, die sich mit Martin Luther und anderen Reformatoren beschäftigten und deren Person und Leben und Theologie unter den verschiedensten Themenstellungen beleuchteten und mit der Gegenwart verknüpften.

Westfalen hat das Motto „Einfach frei“. Die EKD, die Evangelische Kirche in Deutschland, für die Sie als stellvertretende Ratsvorsitzende ja auch Verantwortung tragen, hört  Klagen, dass in Wittenberg der Reformationssommer nicht so gut gelaufen sei. Auch bei den „Kirchentagen auf dem Weg“ hielt sich der Erfolg in Grenzen. War das ein Flop?
Wir haben groß gedacht und mit vielen Ideen geplant. Das Ergebnis war ein attraktives Angebot. Im Blick auf die erwarteten Besucherzahlen haben wir uns verkalkuliert. Von Anfang an kamen viel zu große Zahlen ins Spiel. Gemessen daran war die Realität dann tatsächlich mancherorts enttäuschend. Die Menschen an verschiedene Orte der Reformation zu den „Kirchentagen auf dem Weg“ einzuladen, hat wohl eher zu Verwirrung geführt als zu der angestrebten Weitung des Blicks.
Das Ganze war in vieler Hinsicht ein mutiges und riskantes Experiment. Trotz manch selbstkritischer Einsicht im Nachhinein stehe ich dazu, dass wir es gewagt haben.

Welche Rolle spielen denn überhaupt Zahlen im kirchlichen Handeln?
Es gehört zu unserer nüchternen Verantwortung, auch die Zahlen im Blick zu behalten. Was wir im Namen des Evangeliums tun, will möglichst viele Menschen erreichen. Das gilt für die regelmäßigen Gottesdienste in unseren Gemeinden ebenso wie für eine einmalige Weltausstellung. Wenn kirchliche Angebote stark in Anspruch genommen werden, ist das Erleben für alle Verantwortlichen und Beteiligten in der Regel beflügelnd und ermutigend. Manchmal ist ein guter Besuch erforderlich, um die entstandenen Kosten zu decken.

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