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Kirchliche Vielfalt an der Moldau

Eine Studienreise nach Prag zum Ausklang des westfälischen Themenjahres spürte in Begegnungen und Gesprächen der oft vergessenen Reformation des Jan Hus und ihren Wirkungen bis heute nach und beleuchtete die jüngere deutsch-tschechische Geschichte

500 Jahre Reformation im Jahr 2017? Darüber schmunzeln evangelische Christen in Tschechien und verweisen auf den böhmischen Reformator Jan Hus (um 1370 bis 1415). Der stößt 100 Jahre vor Martin Luther eine Reform der (römisch-)katholischen Kirche an und kämpft als Professor der Prager Universität gegen die Verweltlichung der Kirche wie die Habsucht des Klerus. Inspiriert durch den nordenglischen Theologen John Wyclif setzt Hus auf die Bibel als Grundlage des Glaubens, betont die Gewissensfreiheit des Einzelnen und predigt in tschechischer Sprache. Dafür wird er als Ketzer verfolgt und 1415 auf dem Konstanzer Konzil verbrannt.
Die Wiederentdeckung dieser in Deutschland oft vergessenen Reformation bildete den roten Faden für die Studienfahrt des Amtes für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung (MÖWe) der Evangelischen Kirche von Westfalen  und der Westfälischen Missionskonferenz, die Anfang Oktober in die tschechische Hauptstadt führte. Neben den zahlreichen Sehenswürdigkeiten der Moldau-Metropole stand das Kennenlernen verschiedener Kirchen auf dem Programm.
Zu Beginn besuchte die Reisegruppe den deutschen Gottesdienst in der Kirche St. Martin in der Mauer und wurde von Pfarrerehepaar Andrea und Frank Leßmann-Pfeifer herzlich empfangen. Auf die Spuren von Jan Hus führten die Begegnungen mit der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder und der Tschechoslowakischen Hussitischen Kirche. Die Ökumenebeauftragten beider Konfessionen – Gerhard Frey-Reininghaus und Hana Tonzarova – erklärten die unterschiedlichen Entwicklungen und theologischen Profile ihrer Kirchen.
Während die erstgenannte nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Zusammenschluss von Lutheranern und Reformierten entstand und sich bewusst als unierte evangelische Kirche versteht, hat sich die zweitgenannte erst 1920 von der katholischen Kirche getrennt und beruft sich als Nationalkirche sowohl auf Jan Hus wie auf die Slawenapostel des 9. Jahrhunderts, Kyrill und Method. Beide protestantische Kirchen bilden mit je etwa 80 000 Gemeindegliedern eine kleine evangelische Minderheit.
Doch auch die deutlich größere katholische Kirche hat in der Zeit des Kommunismus wie nach der „Samtenen Revolution“ von 1989 viele Menschen verloren. Über Ursachen und Folgen der fortschreitenden Säkularisierung referierte Jirí Silný, der langjährige Leiter der Ökumenischen Akademie Prag. Diese Einrichtung bietet ein offenes Forum für kirchliche und gesellschaftliche Themen, initiiert Kampagnen für Frieden und Gerechtigkeit und betreibt einen eigenen Weltladen.
Nicht zuletzt begegnete die Reisegruppe der jüngeren deutsch-tschechischen Geschichte. Der Besuch des Jüdischen Viertels in Prag führte den religiösen Reichtum des Judentums und die unauflösliche Beziehung zwischen Juden und Christen vor Augen. Wohin Größenwahn und Rassenhass führen können, machte ein Besuch in der Gedenkstätte Theresienstadt, 60 Kilometer nördlich von Prag, deutlich. Sehr viel versöhnlicher fiel der Besuch in der Deutschen Botschaft aus. Botschaftsmitarbeiterin Katrin Bock erläuterte, wie im Herbst 1989 bis zu 4000 Menschen aus der DDR gegen erbitterten Polizeiwiderstand über die Zäune geklettert seien und Zuflucht in der diplomatischen Vertretung suchten. Von der damaligen Fluchtbewegung bis zur aktuellen Flüchtlingssituation und der Asylverweigerung durch osteuropäische Staaten reichten die Gesprächsbeiträge des Besuchs.
Zum Ausklang des westfälischen Themenjahres „Weite wirkt“ machte die Studienreise deutlich, wie die Reformation durch Jan Hus, Martin Luther und andere gewirkt hat – und was sie heute noch bewirkt.

Martin Ahlhaus ist MÖWe-Regionalpfarrer für Südwestfalen.