Die evangelischen Kirchen und die Diakonie in Nordrhein-Westfalen haben den ersten von bundesweit neun Verbünden zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt gegründet. Spitzenvertreter der rheinischen, westfälischen und lippischen Landeskirche sowie der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe (RWL) unterzeichneten am Montag in Wuppertal eine entsprechende Erklärung. Der „Verbund West“ soll die unabhängige Aufarbeitungskommission für diese Region errichten, die sich vom Niederrhein bis an die Saar erstreckt. Der Kommission sollen vom Staat benannte Experten, Betroffene sowie Vertreter von Diakonie und Landeskirchen angehören.
Evangelische Kirche und Diakonie hatten sich im Dezember gegenüber der Missbrauchsbeauftragten des Bundes, Kerstin Claus, zu einheitlichen Standards der Missbrauchsaufarbeitung und zur Gründung unabhängiger regionaler Aufarbeitungskommissionen verpflichtet. Sie seien wichtig für eine standardisierte und umfassende Aufarbeitung, sagte Diakonie-Vorständin Kirsten Schwenke: „Wir stehen zu unserer Verantwortung und verpflichten uns zu einheitlichen Standards der Prävention und der Transparenz, zu einheitlichen Anerkennungsverfahren und zu einem einheitlichen Prozess“.
Die Geschäftsstelle der Kommission in der Region West soll bei der Diakonie angesiedelt sein und im Frühjahr eingerichtet werden. Die Kommission soll sieben Mitglieder haben: zwei Missbrauchsbetroffene sowie unabhängige Experten aus Wissenschaft, Justiz oder öffentlicher Verwaltung und Vertreter von Kirche und Diakonie. Die Mehrheit muss von Kirche und Diakonie unabhängig sein. Die Experten werden von der NRW-Landesregierung benannt und die Betroffenen von einer noch zu bildenden Betroffenenvertretung. Dazu ist für Juni eine offene Forumsveranstaltung geplant.
Spätestens im März 2025 sollen alle bundesweit neun Kommissionen arbeitsfähig sein. Die Kommission im Verbund könne über ihr Vorgehen selbst bestimmen und etwa Studien oder andere Aufarbeitungsprozesse empfehlen, hieß es. Unabhängig davon plädierte Schwenke für ein staatliches Gesetz, das Betroffenen einen Rechtsanspruch auf Aufarbeitung nach einheitlichen und klar definierten Standards gibt.
Die Vertreter der NRW-Kirchen hoben die Bedeutung der Betroffenen für die Missbrauchsaufarbeitung hervor. „Es geht immer darum, ihr erlittenes Leid und widerfahrenes Unrecht anzuerkennen“, sagte der Vizepräses der rheinischen Kirche und Koordinator des Verbunds West, Christoph Pistorius.„ Der Theologische Vizepräsident der westfälischen Kirche, Ulf Schlüter, betonte, es gebe keine Aufarbeitung ohne die Perspektive und das verantwortliche Mitwirken von Betroffenen: “Wir werden alles dafür tun, dass diese Perspektive nachdrücklich zur Geltung kommen kann.”
Der rheinische Präses Thorsten Latzel sagte, eine regionale Aufarbeitung sei nötig, weil die Bedingungen in den Landeskirchen bundesweit unterschiedlich seien. Der lippische Landessuperintendent Dietmar Arends hofft durch die regionale Aufarbeitungskommission auf Erkenntnisse für die weitere Präventionsarbeit. Ziel müsse sein, „dass wir die Konsequenzen ziehen aus dem, was wir bei der Aufarbeitung gemeinsam erarbeiten“.
Ende Januar hatte ein von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragter Forschungsverbund seine Studie zu sexualisierter Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie vorgelegt. Ermittelt wurden mindestens 2.225 Betroffene und 1.259 Beschuldigte. Seit Veröffentlichung der Studie sei die Zahl der Verdachtsmeldungen allein in der rheinischen Kirche von 76 auf 90 gestiegen, sagte Pistorius. Es handle sich überwiegend um „Altfälle“.