Ältere, verheiratete Frau und jüngerer Mann – Eine solche Affäre lässt in “Wild wie das Meer” eine französische Fischerin ihr Leben überdenken. Doch ist die Leidenschaft nur Katalysator für ein feministisches Streben.
Chiara (Cecile de France) ist eine attraktive Mittvierzigerin und arbeitet mit ihrem Mann Antoine als Fischerin auf einem Kutter. Als junge Frau hat es sie auf die Insel an der rauen französischen Atlantikküste verschlagen – der Liebe wegen. Seit 19 Jahren ist sie die Ehefrau von Antoine (Gregoire Monsaingeon); sie heirateten sechs Monate nach ihrem ersten Treffen.
Als Belgierin italienischer Herkunft glaubt sich Chiara gut in die kleine Inselgemeinde integriert – bis sie den jungen Maxence (Felix Lefebvre) als Auszubildenden aufnimmt und das alteingesessene Gefüge ins Wanken gerät.
Der verwöhnte Maxence stammt aus einer bürgerlichen Familie und weiß anscheinend nicht, was er mit seinem Leben anstellen soll. Trotz seiner Seekrankheit scheint ihm die harte Arbeit auf dem Kutter zu liegen. Bald verliebt er sich in die etwa doppelt so alte Chiara. Wenn Antoine nicht zugegen ist, ergeben sich erotisch aufgeladene Situationen, auf die Chiara betreten reagiert. Als Antoine zwei Wochen nach England fährt, um mit englischen Kollegen nach dem Brexit die Fangquoten zu verhandeln, beginnen Chiara und Maxence eine leidenschaftliche Affäre.
Am Anfang des Debütfilms “Wild wie das Meer” von Regisseurin Heloise Pelloquet wird eine für Chiara intakte Welt beschworen. Ihr Job ist körperlich hart und eintönig, scheint ihr aber zu behagen. Ihre kinderlos gebliebene Ehe mit Antoine ist harmonisch, und Sex haben die beiden auch noch regelmäßig. Im ihrem Haus herrscht zwar ein wenig Chaos, doch es ist gemütlich.
In der Gemeinde kennt und schätzt man sich, hilft sich aus oder kommuniziert miteinander, wenn ein Sturm Schaden auf der Insel angerichtet hat. Doch bleibt den Inselbewohnern die heimliche Beziehung nicht verborgen. Vor allem der Besitzer der örtlichen Hafenkneipe (Jean-Pierre Couton) macht Chiara Vorwürfe.
Allmählich stellt sich heraus, dass der Grat zwischen gegenseitiger Fürsorge und Überwachung schmal ist. Einer alten Nachbarin bietet Chiara in einer frühen Szene in ihrem Haus einen Tee an und plaudert mit ihr. In einer späteren Szene mit derselben Nachbarin bittet sie diese jedoch nicht ins Haus, weil sich ihr junger Liebhaber darin befindet. Die Reaktion der alten Frau ist vielsagend. Sie wird ihren Verdacht wohl nicht für sich behalten. Als sie auch von anderen Inselbewohnern schief angesehen und sogar angefeindet wird, muss Chiara ihr Leben in ihrer Wahlheimat überdenken.
Eindeutig gezeigt werden solche schleichenden Entwicklungen allerdings nicht. Auch auf explizite Streitigkeiten oder Aussprachen verzichtet das Drehbuch weitgehend. Der Film schwingt nicht den moralischen Zeigefinger, auch wenn seine Figuren es zuweilen tun, und erzählt konsequent aus Chiaras Perspektive und mit Sympathie für sie. Durch den Mangel an dramatischen Zuspitzungen kommt “Wild wie das Meer” aber etwas zu beiläufig und banal daher. Der Film plätschert trotz der – in den Augen der Inselbewohner – unerhörten Affäre vor sich hin und treibt in die Monotonie.
Natürlich sind die Zeiten von Stendhals Roman “Rot und Schwarz” im 21. Jahrhundert vorbei und wird die Liebe zwischen einer Frau und einem deutlich jüngeren Mann nicht mehr mit dem Tod bestraft. Dennoch bebildert Pelloquet die Affäre nicht besonders inspiriert; die Liebesszenen reihen sich aneinander, bleiben dabei jedoch eher Illustration und transportieren keine großen Gefühle, auch wenn die beiden Hauptdarsteller ihre Rollen mit viel Charisma ausfüllen.
Unterm Strich – und das ist das Interessante an “Wild wie das Meer” – fungiert die Affäre eher als Katalysator für Chiara, ihr Leben auf der Insel und ihren Platz in der Gesellschaft kritisch zu hinterfragen. Für den jugendlichen Liebhaber ist das undankbar, unterstreicht aber die feministische Agenda des Films, die von einer Selbstverwirklichung erzählt. Der feine französische Originaltitel lässt auch eine gewisse Ambivalenz anklingen: “La passagere” bedeutet “Die Passagierin”, bezeichnet aber auch einen vorübergehenden Zustand. So entschließt sich Chiara gegen den Stillstand und entlarvt mit ihrer Affäre eine Gesellschaft, in der man die Seitensprünge der Männer wohlwollend verzeiht, während untreue Frauen immer noch als moralisch fragwürdige Personen abgestempelt werden.