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Kinder wieder stark machen

Familien-Experte: Das Letzte, was Kinder jetzt brauchen ist Druck, um Schulstoff aufzuholen

Mit einem milliardenschweren Aufholprogramm will die Bundesregierung dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche die Lernrückstände durch die Corona-Pandemie möglichst bald wettmachen. Der Präsident der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie (eaf), Martin Bujard, sagt dagegen im Gespräch mit Bettina Markmeyer: Viele Kinder sind nach 15 Monaten Corona seelisch fertig. Das Letzte, was sie brauchen, ist noch mehr Druck.

 

Herr Bujard, mehr als die Hälfte der Eltern macht sich wegen Corona Sorgen um die Bildung und die Chancen ihrer Kinder. Sie sagen hingegen: Es gibt jetzt Wichtigeres als den Schulstoff nachzuholen. Was denn?
Martin Bujard: Die Bildungsrückstände sind bekannt, und sie sind deutlich. Wir müssen uns aber zunächst darauf konzentrieren, die Kinder wieder stark und selbstbewusst zu machen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie wieder Lebensfreude spüren, Gleichaltrige treffen, in den Urlaub fahren und jetzt nicht zu schnell zu viel Schulstoff aufholen müssen. Viele Kinder sind seelisch fertig. Das Letzte, was sie jetzt brauchen, ist noch mehr Druck.
Viele Lehrer wollen – was ja auch ihre Aufgabe ist – das Wissen möglichst schnell nachholen. Da kann man aber in der jetzigen Situation viel Schaden anrichten, wenn das Tempo zu hoch ist. Denn wenn es Kindern schlecht geht, lernen sie auch nicht gut. Nach 15 Monaten Pandemie mit längeren Schulschließungen sind die Kinder von ihrem ganzen Erleben her extrem verunsichert, in ihrer Entwicklung und im Kontakt zu anderen. Wenn man ihnen nun auch noch sagt: Ihr seid in der Schule nicht gut genug, ihr müsst mehr arbeiten, dann macht man ihre Situation schlimmer, nicht besser.

 

Worunter leiden die Kinder und Jugendlichen?
Sie leiden vor allem daran, dass sie monatelang kaum Kontakte zueinander hatten. Den Kindern fehlen Entwicklungsmöglichkeiten, ihr Selbstwertgefühl leidet. Als Folge sehen wir, dass psychosomatische Beschwerden zunehmen, Angst- und Essstörungen etwa. Befragungen von Jugendlichen zeigen, dass hochgerechnet Hunderttausende junge Menschen im ersten Lockdown eine depressive Symptomatik entwickelt haben. Wir haben repräsentative Befragungen, wonach bei 1,7 Millionen Kindern zwischen 11 und 17 Jahren die gesundheitliche Lebensqualität infolge der Pandemie eingeschränkt ist. Im ersten Lockdown waren es 40 Prozent in dieser Altersgruppe, im zweiten Lockdown schon 48 Prozent.

 

Die Bundesregierung hat ein Nachholpaket im Umfang von zwei Milliarden Euro aufgelegt. Setzt es die richtigen Schwerpunkte?
Das Paket hat zumindest beides im Blick, setzt aber einen Schwerpunkt beim schulischen Aufholen. Dafür ist eine Milliarde Euro vorgesehen. Von der zweiten Milliarde gehen 530 Millionen Euro in Ferien-, Freizeit- und außerschulische Angebote. Mir macht aber die öffentliche Debatte ernsthafte Sorgen. Es geht vorrangig um den Schulstoff mit einem defizitorientierten Blick auf die Kinder: Sie haben Lerninhalte verpasst! Sie müssen aufholen! Das verunsichert Kinder zusätzlich. Dabei haben sie doch viel geleistet und haben durch ihren Verzicht auf Bildung und Kontakte zu ihren Mitschülern in der Krise Solidarität gegenüber den Älteren geübt.

 

Schätzungsweise wird jedes vierte Kind Nachhilfe brauchen. Läuft man nicht Gefahr, benachteiligte Kinder abzuhängen, wenn der verpasste Schulstoff nicht bald nachgeholt wird?
Hier gibt es tatsächlich einen Zielkonflikt. Diejenigen, die schulisch weit hinten liegen, sind oft auch die, die die schwierigsten Lebensumstände haben und gesundheitlich besonders belastet sind. Wenn man jetzt sagt: Ihr müsst den verpassten Stoff in einem halben Jahr nachholen, schaffen vielleicht gerade diese Kinder das nicht. Im schlimmsten Fall sind sie schulisch abgehängt und es verfestigt sich eine psychische Erkrankung, ein Teufelskreis entsteht.

 

An wen richtet sich Ihr Appell?
Wir appellieren an die Kultusminister, an Schulleiterinnen und Schulleiter, an Lehrerinnen und Lehrer: Der Druck muss vom Kessel, Lehrpläne müssen angepasst werden.
Wichtige Akteure sind auch die Schulsozialarbeit und außerschulische Angebote für Kinder, Jugendliche und Familien wie Familienberatung und -erholung. Dafür braucht man eine Finanzierung für mehrere Jahre.

 

Warum wird das Land in der Pandemie erst jetzt auf seine Kinder aufmerksam?
Es ist ein grundsätzliches Problem. Familien haben nur eine kleine Lobby. Da gibt es lediglich einige Verbände, die im Vergleich etwa zu Wirtschaftsverbänden bescheidene Ressourcen haben. In der Corona-Pandemie haben zudem Familienwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen bei der Beratung der Bundesregierung eine vergleichsweise geringe Rolle gespielt. In den entscheidenden Runden saßen Virologen, Epidemiologen oder auch Ökonomen. In den Talkshows war es genauso.
Dabei sind die psychischen Auswirkungen auf Kinder gravierend. Man kann diese nur nicht so gut testen wie eine Corona-Infektion. Im Prinzip haben wir eine vierte Welle: eine stille Pandemie im Kinderzimmer. Wir müssen jetzt das Richtige tun, um sie zu beenden.