Die Mulden in den Backsteinen am Eingang zum Frauenburger Dom sind so tief, dass Tadeusz Kochanski seine Fingerkuppen darin versenken kann. „Wenn ich Kinder durch den Dom führe, sage ich, diese Löcher haben Sünder zur Buße mit ihren Fingern gemacht“, lacht Kochanski. „Die freuen sich dann, dass sie nicht mehr im Mittelalter leben.“ Älteren Besuchern erzählt der 57-Jährige den tatsächlichen Grund: Jene Mulden in den Backsteinen seien beim Feuerbohren entstanden, um etwa Kerzen in dem gotischen Gotteshaus zu entzünden.
Kopernikus liegt im Dom begraben
Im Innern des Domes bringt Kochanski, der Küster und Fremdenführer zugleich ist, Besucher am liebsten zu einer Stelle, die erst vor wenigen Jahren Weltberühmtheit erlangte. „Hier liegt Kopernikus begraben“, erklärt Kochanski.
Jahrhundertelang hatten Wissenschaftler vergeblich nach der Begräbnisstätte des Astronomen und Frauenburger Domherrn gesucht. 2006 schließlich fanden Archäologen sterbliche Überreste unter einem Seitenaltar, die dank kriminalistischem Spürsinn und einem DNA-Vergleich dem berühmten Astronomen zugeordnet werden konnten. 2010 wurden sie in einem neuen Grab bestattet. Kochanski, der in einer weiß-braunen Robe einem Zeitzeugen von Kopernikus ähnelt, geht hinauf auf den Glockenturm des Domhügels. „Kopernikusturm“ nennt er sich heute, da er dem Gelehrten gehörte, der hier seine Wohnung und Arbeitsräume hatte.
Glocken muss der 57-jährige Küster hier aber nicht mehr per Hand betätigen. Vielmehr genießt Kochanski von hier den Blick über die 2500-Einwohner-Stadt, das Frische Haff bis zur Ostsee. Frauenburg (Frombork) wird gerade wegen der gotischen Domhügel als „Perle des Nordens“ bezeichnet und auch die Umgebung der kleinen Stadt am Frischen Haff ist reizend für Ausflüge und zur Erholung. Das hat nicht nur Kopernikus zu schätzen gewusst, der immerhin 40 Jahre bis zu seinem Tod im Jahre 1543 in Frauenburg verbrachte.
So hat auch Kaiser Wilhelm II., wenige Kilometer westlich, am Haff das Gut Cadinen (Kadyny) zu seiner Sommerresidenz gemacht. In den Wäldern ging der letzte deutsche Kaiser auf Jagd, gründete 1904 eine Majolika-Werkstatt, deren Produkte als Kadiner Kacheln in Berlin etwa bei U-Bahnhöfen Verwendung fanden, und ließ das Dorf nach seinem Geschmack um- und ausbauen. Einheitliche Häuser prägen heute die kleine Siedlung, während Hotelgäste in dem ehemaligen, kaiserlichen Gut residieren.
Weiter westlich liegt Elbing (Elblag), mit über 120 000 Einwohnern die größte Stadt am Frischen Haff. Den einstigen Glanz zerstörte der Zweite Weltkrieg und erst in jüngster Zeit wurde die Altstadt unter Verwendung historistischer Bauformen sowie von Fachwerkimitationen wieder aufgebaut. Die alte Pracht gewann Elbing bisher nicht zurück, auch nicht die alte wirtschaftliche Bedeutung als Hansestadt. Zwar ist Elbing wieder offiziell ein Seehafen, doch die Ausfahrt zur offenen Ostsee verläuft über russisches Hoheitsgebiet, durch eine Meerenge in der Frischen Nehrung.
Denn der Westen der 70-Kilometer langen und schmalen Landzunge östlich von Danzig gehört heute zu Polen, während sie im Osten zum Oblast Kaliningrad und damit zu Russland gehört. Die Landschaft hier ist malerisch: im Süden das Haff, im Norden die Ostsee. Und dazwischen ein Landstrich mit einer Breite zwischen wenigen hundert und etwa 2000 Kilometern. Im Süden findet sich stellenweise ein sumpfiges Haffufer, im schmalen Innern der Nehrung gibt es mit Kiefern bewaldete Höhen, von denen schon das Rauschen der Ostseebrandung zu hören ist. Der Strand ist weiß.
Nehrung hat polnischen und russischen Teil
Die Nehrung selbst ist das Ergebnis eines Jahrtausende andauernden Zusammenspiels dreier Naturelemente: Meeresströmungen spülten Sand ans Land, das von Winden zu Dünen geformt wurde, die nach und nach von Pflanzen und Tieren besie-delt wurden. Die Nehrung beginnt hinter dem Ort Stutthof (Sztutowo), der in die Geschichtsbücher wegen seiner Vergangenheit eingegangen ist. Nur wenig vom Ostseestrand entfernt lag hier mit dem KZ Stutthof ein Ort unvorstellbaren Grauens. 65 000 Menschen wurden hinter dem Stacheldraht von den Nazis ermordet. Heute erinnern ein Museum und eine Gedenkstätte an jene dunkle Zeit, die 1945 zu Ende ging.
Im gleichen Jahr wurde auch die Nehrung in einen russischen und einen polnischen Teil geteilt. Gleich hinter dem kleinen Badeort Neukrug (Nowa Karczma, umgangssprachlich: Piaski) verläuft die Absperrung und damit auch die EU-Grenze. Der Strand ist an der Grenze oft menschenleer, und vom südlichen Teil der Ortschaft, am Ufer des Haffs, ist Frauenburg zu sehen. Der Kopernikusturm ist als höchstes Gebäude leicht zu erkennen. Mit etwas Glück winkt von ihm auch Tadeusz Kochanski, der häufig von oben die Aussicht über das Haff genießt.KNA
Eine Nehrung ist ein schmaler, meistens sandiger Landstreifen, der einen flacheren Teil eines Meeres vom offenen Wasser abtrennt. Ein Haff ist ein durch eine Nehrung oder durch vorgelagerte Inseln vom tieferen Hauptteil des Meeres getrennter Brackwasserbereich.