Diese Geschichte beginnt vor 110 Jahren in Norditalien, und sie geht über Wien und Rom zurück in die Lombardei. Akteure sind ein Naturschützer, Studentinnen, ein Professor, eine Diplomatin – und Soldaten im Weltkrieg.
Schon als Kind ist Michele Ravizza magisch angezogen von diesen seltsamen Fugen und Wällen, denen er auf Streifzügen durch seine norditalienische Heimat begegnet. Vom Großvater erfährt er: Die Narben im Erdreich sind Schützengräben, in denen vor 110 Jahren Soldaten die Schrecken des Krieges erlebten – und vielfach nicht überlebten. Denn zwischen Österreich-Ungarn und Italien tobten damals ähnlich blutige Schlachten wie im Westen bei Verdun zwischen Deutschen und Franzosen.
Das ließ dem jungen Mann aus Ponte di Legno in der Lombardei keine Ruhe; bis heute. “Ich bin fast 27; aber viele dieser Männer durften nicht mal so alt werden, weil sie unter feindliches Feuer fielen oder von Lawinen erstickt wurden.” Was der Student in Agrarwissenschaft und Umweltmanagement an der Universität Mailand besonders absurd findet: “In den Bergen des Trentino kämpften Männer aus dem Grenzgebiet gegeneinander, die oft miteinander verwandt waren.” Aber: Anonyme Kriegsberichte sagen nun mal nichts über menschliche Schicksale.
Für seine Diplomarbeit “Management und Schutz der Umwelt in Gebirgsregionen” nimmt er den Tonale-Pass im Trentino in den Blick; im Ersten Weltkrieg Schauplatz vieler Gebirgsschlachten – dem “Weißen Krieg” mit Schnee, Frost und Lawinen. “Dort finden sich nach über 100 Jahren noch Spuren des Kriegs: Granattrichter, Stacheldraht, Reste von Militärdörfern auf fast 3.000 Metern Höhe, Mauern mit Schießscharten, vor allem aber Schützengräben”, so Ravizza. Zugleich dokumentiert er anhand historischer Fotos Veränderungen der Vegetation und der einst riesigen Gletscher.
Aus seinen Recherchen entsteht 2021 das Buch “Tracce di Memoria”. Diese “Spuren der Erinnerung” reichen inzwischen weit über Norditalien hinaus. Denn für eine Fortsetzung des Buchs recherchiert Michele im Österreichischen Bundesarchiv in Wien. Und findet Berichte und Kriegstagebücher – freilich auf Deutsch.
Die Texte einer digitalen Übersetzung anzuvertrauen, kommt für ihn nicht infrage, auch weil die schwer lesbaren Originale in antiquiertem Militär-Deutsch Lücken aufweisen. Zur Hilfe kommt ihm Professor Fabio Proia von der römischen Universität UNINT, spezialisiert auf deutsch-italienische Übersetzungswissenschaft. “Ich habe gleich zugesagt, weil ich Micheles Vorhaben fachlich spannend und historisch-gesellschaftlich wichtig finde”, sagt Proia.
Mehr noch: Er entwickelt daraus ein Best-Praxis-Projekt zur Bedeutung der Übersetzung im Dienst der Geschichtsschreibung am Beispiel jener Kriegsberichte, die Soldaten der 54. österreichischen Halbbrigade an der Verteidigungslinie des Tonale-Passes bis 31. Dezember 1915 verfassten. Die Studentinnen Francesca Balla, Angelica Candido, Giulia Claudia Cesarotti, Valentina Cilvanni und Chiara Lupi übersetzen die Texte ins Italienische – teils harter Tobak, nicht nur für junge Menschen.
“Ad Erlass des Generals der Kavallerie Rohr (…) Kriegszustand gegenüber Italien hat begonnen”, heißt es am 23. Mai 1915 in knappem Militärjargon. Dann, am 15. August 1915: “fortgesetzte Beschießung des Werks Tonale” – “2 Feuerwerker, 1 Korporal und 2 Kanoniere bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. 5 Mann der Beleuchtungsabteilung schwer Nervenchoc.
Diese Berichte hätten sie sehr betroffen gemacht, so die Studentinnen. “Plötzlich wurde uns klar: Wir übersetzen hier nicht Literatur, Fiktion; sondern diese schrecklichen Ereignisse haben echte Menschen erlebt, vielleicht genauso alt wie wir selbst.”
Für die Wiener Diplomatin Teresa Indjein zeigt sich im Einsatz der italienischen Studierenden eine “sehr feine Form liebevoller Zugewandtheit” über Länder- und Zeitgrenzen hinweg – und das für Soldaten, die gegen die eigenen Vorfahren kämpften. Indem sie deren Berichte über das entsetzliche Leben an der Front übersetzten, machten sie die Erinnerungen an diese Toten, die zur Geschichte beider Länder gehörten, wieder lebendig, so die Direktorin des Österreichischen Kulturforums in Rom. “Das Projekt ‘Tracce di Memoria’ ist ein Dialog mit der Vergangenheit, ein Baustein, der unserem Bewusstsein helfen kann – im von so viel Gewalt gezeichneten Heute”, so Indjein.