Jürgen Israel ist 68 Jahre alt, Publizist und Schriftsteller. Jürgen Israel ist seit Mai in Cata/Katzendorf. Das liegt zwischen Brasov/Kronstadt und Sighisoara/Schässburg in Siebenbürgen in Rumänien. Er lebt dort im Erdgeschoss des so genannten Pfarrerturms einer Kirchenburg. Er hat den Preis eines Dorfschreibers gewonnen und arbeitet ein Jahr in Cata.
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Je länger ich in Rumänien lebe, umso stärker richtet sich mein Interesse auf das Verhältnis der Ungarn, Rumänen und Deutschen einerseits zu den Zigeunern andererseits. Aus einem siebenbürgischen Dorf, in dem noch 150 Sachsen leben, erzählte uns der Pfarrer folgendes: ein alter, verwitweter Mann litt unter nächtlichen Angstattacken. Er wurde im Krankenhaus behandelt; bei der Entlassung sagte der Arzt, er dürfe auf keinen Fall mehr allein schlafen. Seine Kinder sind in Deutschland, hier hat er keine Verwandten. Nun schlafen zwei jugendliche Zigeuner bei ihm, beide um die 18 Jahre. Sie sind nicht immer beide bei ihm; einer von ihnen hat ein paar Wochen in Deutschland gearbeitet. Aber einer ist nachts immer dort, und der alte Mann ist nicht allein. Das ganze Dorf weiß es und findet es gut so. Ob der alte den jungen Männern etwas gibt, weiß ich nicht. Vielleicht haben sie bei ihm bessere Schlafstätten als daheim.Das eigentlich tragische ist nicht das Schicksal des alten Mannes, sondern das des einen Jugendlichen: einer von ihnen war, wie gesagt, eine Weile zum Arbeiten in Deutschland. Der andere durfte nicht mitfahren, weil er keinen Pass besaß. Seine Mutter hatte ihn nach der Entbindung im Krankenhaus zurückgelassen und sich nicht weiter um ihn gekümmert. Eine fremde Familie hat ihn aufgenommen und großgezogen. Erst jetzt, mit 18 Jahren, stellte sich heraus, dass er nirgends registriert war, dass er keinen Ausweis besaß. Da er in keiner Liste eingetragen war, für die Verwaltung überhaupt nicht existierte, hat er keine Schule besucht und eben auch keinen Ausweis bekommen. Jetzt haben sich einige Erwachsene darum gekümmert, haben den Geburtstag erfahren, einen Namen hatte er wohl. Inzwischen hat er einen Pass und kann, wenn sich eine Gelegenheit ergibt, ebenfalls nach Deutschland zum Arbeiten gehen.In diesem Dorf scheint es keine Abgrenzung der Rumänen, Ungarn und Sachsen den Zigeunern gegenüber zu geben. Im Gegenteil. Beide Geschichten sprechen eher für ein solidarisches Zusammengehörigkeitsgefühl.Ähnliches erlebten wir Anfang August auf einem Sommerfest, zwei Autostunden von Cata entfernt: zwei Frauen, eine aus den USA und eine aus Frankreich, haben sich im Dorf ein altes Haus gekauft und es von einem Handwerker herrichten lassen. Jetzt nahmen sie den Geburtstag der einen zum Anlass, Freunde und Bekannte einzuladen und mit ihnen zu feiern, dass sie das Haus während des Sommers bewohnen können. Gäste aus Italien, Frankreich, Finnland und Deutschland waren gekommen und ganz selbstverständlich auch die unmittelbaren Nachbarn, eine Zigeunerfamilie. Die Frau briet Kartoffeln und Fleisch über offenem Feuer, der Mann heizte den Ofen, auf dem Mais gekocht werden sollte, und die Enkel spielten mit den anderen Kindern. Da viel zu viel gebraten worden war, mussten sie wie alle anderen Gäste auch ein Päckchen Fleisch mit nach Hause nehmen.Freilich, es war eine Festgesellschaft, alle waren heiter und wollten einander wohl. Aber wenn die Gastgeberinnen und die anderen Gäste aus dem Dorf sich den Zigeunern gegenüber hätten abgrenzen wollen, wäre die Familie nicht eingeladen worden. Es waren durchaus nicht alle Nachbarn eingeladen worden. Die Zigeunerfamilie war ganz bewusst eingeladen worden.