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Journalist Martin Doerry schreibt über seine Mutter

Was ist nach Lillis Tod aus Ilse geworden, was aus ihren Schwestern? Das fragten die Leser Autor Martin Doerry nach der Lektüre von “Mein verwundetes Herz”. Jetzt kommt die Fortsetzung – die Geschichte von Mutter Ilse.

Es war das Buchereignis im Jahr 2002: Martin Doerry veröffentlichte die Briefbiographie “Mein verwundetes Herz”, in der er das tragisch-kurze Leben seiner Großmutter Lilli Jahn (1900-1944) erzählte. Die Jüdin wurde im KZ Auschwitz umgebracht, nachdem sich ihr nicht-jüdischer Ehemann von ihr getrennt hatte.

Das Buch beeindruckte die Leser sehr, Vergleiche mit dem Tagebuch von Anne Frank oder den Aufzeichnungen Victor Klemperers wurden angestellt. Die Leser nahmen auch großen Anteil an dem Schicksal von Lilli Jahns fünf Kindern. Wie ist es ihnen weiter ergangen?

In seinem neuen Buch “Lillis Tochter” geht Doerry auf das Schicksal seiner Mutter Ilse (1929-2015) ein. “Die Geschichte meiner Mutter steht für das Schicksal Tausender Menschen, die ihre Mutter oder ihren Vater im Holocaust verloren haben, die die Jahre der Verfolgung überstanden und danach mit diesen Verletzungen weiterleben mussten”, schreibt Doerry. Außerdem thematisiert der Autor den engen Spielraum, der Frauen in der Nachkriegszeit zugewiesen wurde.

Als Grundlage für das Buch dienten neben Erinnerungen und Gesprächen über 1.000 Briefe. In seiner Familie wurden Briefe nicht weggeworfen sondern verwahrt, um sie später noch einmal zu lesen, so Doerry.

Ilse Jahn war das zweite Kind und älteste Tochter von Ernst und Lilli. Sie war 14 Jahre alt, als die Mutter im Sommer 1943 in das Arbeitserziehungslager Breitenau gebracht wurde und sie sich als Ersatzmutter um ihre Geschwister kümmern musste. In den Briefen an die Mutter schildern Ilse und ihre Geschwister den Alltag im Krieg und äußern ihre große Sorge um die Mutter, die sie sehr vermissten.

Der Tod der Mutter in Auschwitz traf die Kinder tief. Noch lange nach dem Krieg fühlten sie sich nicht in der Lage, herauszufinden, wie Lilli dort gestorben ist. Sie konnten auch nicht darüber sprechen, geschweige denn Bilder oder Filmaufnahmen betrachten, aus Angst, ihre Mutter dort zu entdecken.

Doerry zitiert hier den Begriff des “feinen Schweigens”, der auf den Historiker Fritz Stern zurückgeht. Es ist “ein Schweigen, das die deutsche Nachkriegsgesellschaft zur Norm gemacht hatte, um die Täter in ihren Reihen zu schützen. Ein Schweigen, das auch vielen Opfern und ihren Nachfahren zunächst gelegen kam, die von ihren Erinnerungen verfolgt wurden”, schreibt er.

Dieses “feine Schweigen” herrschte auch in der Familie Doerry vor. Ilse hatte, so erinnert sich ihr Sohn Martin, eine Art Altar mit einem Bild ihrer Mutter auf ihrem Schreibtisch aufgebaut, blieb aber äußert knapp in ihren Auskünften. Ihr Bruder Gerhard Jahn (1927-1998), SPD-Politiker und Bundesjustizminister, hat bis zu seinem Lebensende die Geschichte seiner Mutter Lilli verschwiegen.

Der Antisemitismus endete schließlich nicht mit dem Untergang des NS-Regimes. Ihr Schwiegervater Albrecht Doerry blieb ein überzeugter Nazi und warnte seinen Sohn Jürgen vor der Ehe mit Ilse. Ilse und ihr Schwiegervater schlossen später einen unausgesprochenen Stillhalte-Pakt, um Familientreffen möglich zu machen.

Antisemitismus sowie ein komplettes Hinwegsehen über eine NS-Biographie begegneten ihr oft genug in ihrem gesellschaftlichen Umfeld, das von dem Beruf ihres Mannes dominiert wurde. Ilse war mit dem Juristen Jürgen Doerry verheiratet, dessen Karriere ihn bis zum Bundesgerichtshof führte.

“Als ich in Tel Aviv aus dem Flugzeug stieg, schoss mir der Gedanke durch den Kopf: Hier sind alle Menschen Juden. Endlich bist du wie alle anderen. Aber es war auch alles fremd. Doch es blieb das Faktum, dass niemand mehr sagen konnte, du bist ein Außenseiter. Man gehörte dazu”, erzählte sie ihrem Sohn Martin über ihren ersten Besuch in Israel Mitte der 1970er Jahre. In Deutschland hingegen empfanden sich Lillis Töchter noch drei Jahrzehnte nach dem Krieg als Außenseiterinnen.

Als Gerhard Jahn, der ältere Bruder Ilses, 1998 starb, fanden sie über 200 Briefe der Kinder an die Mutter und ihre Antworten. Nach weiteren Recherchen erwuchs daraus ein Buchprojekt. Die Arbeiten daran bedeuteten zwar einerseits ein erneutes Durchleben der traumatischen Ereignisse, andererseits war Schweigen nicht mehr möglich.

Nach der Veröffentlichung des Buches wurde die Erinnerung an Lilli für seine Mutter zu einer Mission, so Martin Doerry. Sie absolvierte die öffentlichen Auftritte mit großer Professionalität und erfuhr viel Anerkennung. Es waren gute Jahre für seine Mutter, so Doerry. Ilse Doerry starb 2015.