Ein Mann, Mitte 30, erhält die Diagnose Alzheimer: Wie sich das Leben eines Menschen plötzlich ändert, beschreibt Jörg Maurer mit warmherziger Komik und etwas Krimifeeling.
“Ich habe Demenz. Haben Sie etwas Geduld. Danke”, steht auf dem kreditkartengroßen Pappschildchen – präsentiert von “Gitti’s Lädchen”. Auf der Rückseite lässt sich Name und Adresse notieren. Die Inhaberin des Schreibwarengeschäfts überreicht dieses besondere Visitenkärtchen ihrem Kunden Daniel Koch mit dem Hinweis: “Zeigen Sie es her, wenn Ihnen danach ist”. Möglichkeiten gebe es viele: an der Supermarktkasse, in der Straßenbahn, auf der Skipiste oder in der Sauna.
Damit ist man mittendrin in Jörg Maurers neuem, 302 Seiten dicken Roman “Leergut”. In dem bei Fischer erschienenen Buch widmet sich der Autor der “Jennerwein”-Krimis, die alle zu Bestsellern wurden, dem Thema Alzheimer. Wer ihn kennt, weiß, dass der Schriftsteller seinen eigenen Stil und eine besondere Art von Humor pflegt. Er mache sich aber nicht über Demenzkranke lustig, versichert der einst auch als Musikkabarettist auftretende Maurer auf dem Infoblatt des Verlags. “Aber es hilft schon, solch einem mächtigen Feind mit einem Lächeln oder dionysischen Lachen, je nach Temperament, gegenüberzutreten.”
Der Statistik zufolge leben in Deutschland derzeit 1,84 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung. Aufgrund der zunehmenden Lebenserwartung rechnen Fachleute damit, dass diese Zahl noch steigen wird. Maurers Protagonist ist erst Mitte 30, als er mit der Krankheit konfrontiert wird – ein Mann, der sich gesund ernährt, nicht trinkt, nicht raucht und auch noch viel Sport treibt. Neurologin Sarah Gossberg rät ihm, ab sofort immer Block und Bleistift parat zu halten, um alles aufzuschreiben. Das sei eine gute Methode, um Struktur in einen Alltag zu bekommen, der zunehmend aus den Fugen geraten werde.
So landet Koch gleich danach in Gittis Geschäft, die ihm den Schreibblock mit Spiralbindung für 2,80 Euro bereits beim Hereinkommen entgegenhält. Denn wer den dritten Stock des Nebenhauses durch das gläserne Treppenhaus verlässt, hat gerade eine “fette Alzheimer-Diagnose” erhalten, wie die Geschäftsfrau aus Erfahrung weiß. Koch, der begeisterte Sportler, hatte diese relativ gelassen hingenommen – bereit, den Wettkampf anzutreten.
Auf der Suche nach Geschichten fragt er den Taxifahrer oder Kellner, ob sie ihm welche erzählen können. Diese wissen durchaus spannende zu berichten, während er doch selbst gerade seine eigene durchlebt. So treibt Koch um, welchen Menschen aus seinem Familien- und Freundeskreis er mit seinem Schicksal konfrontieren könnte. Irgendwie findet sich nicht der richtige. Von seiner Ex-Freundin muss er sich auf dem Anrufbeantworter eine Schimpforgie anhören, sie belästigt zu haben. Aber hat Koch sie wirklich verständigt?
Maurer nimmt einen mit auf die abenteuerliche Reise seines Protagonisten, indem er verschiedene Erzählstränge auslegt, einem Krimi nicht unähnlich. Da ist die dubiose Neurologin, die mit Hilfe eines jordanischen Sponsors im Keller ein Labor eingerichtet hat, um in der Alzheimer-Forschung den Durchbruch zu schaffen. Und da ist Jan Heidbrink von der pflegerischen Beratungsstelle, der seine an Demenz erkrankte Klientel das berühmte Zifferblatt einer Uhr zeichnen lässt, um daran das Fortschreiten der Krankheit abzulesen. Ein sympathischer Zeitgenosse, der jedes neue Gegenüber fragt, ob dieses mit seiner Knastvergangenheit ein Problem habe.
Auch Straßenmusikerin Lore bekommt im Roman mehrere Auftritte. In ihrem Gitarrenkoffer liegt auf einmal ein Bündel von Geldscheinen, das sie aus Angst am liebsten wieder loswerden möchte. Beim Lesen bekommt man bisweilen den Eindruck, dass die Erzählungen wild durcheinander gehen. Genauso könnte es bei einem Demenzkranken im Kopf zugehen. Durchlebt man gerade die Hirngespinste Kochs? Ist er jetzt wieder in der realen Spur? Was ist Traum, was ist Wirklichkeit? Da macht es einem der Autor nicht immer leicht mit seiner Fantasie, die oft einen Schuss bizarrer Komik enthält.
Nach und nach werden im Raum stehende Fragen, etwa welchen Beruf Koch bisher ausübte, aufgelöst, aber eben nicht alle. Demenzkranke lebten in ihren eigenen Welten, in denen sie bestätigt werden wollten; es sei falsch zu versuchen, sie in “unsere Welt” zurückzuholen, sagt Maurer. Das habe er bei Unterhaltungen mit Betroffenen festgestellt: “In diesem Roman habe ich versucht, solch eine Innenperspektive zu zeigen und sie als durchaus beruhigend zu schildern.” Berührend ist das allemal – und die Lektüre wert.