Selbst das Vogelhaus im Baum hat die Form eines Wohnwagens. Wolfgang Niedrich zeigt am Tor des Wagendorfs auf dem Gelände eines Friedhofs in Berlin-Neukölln ein altes Foto des ehemaligen Standorts der Siedlung auf dem Potsdamer Platz. Am Rand der damaligen Brache mit Magnetbahn standen die Wohn- und Bauwagen bis 1995. Im Zuge der Bebauung des Platzes zogen Niedrich und andere Bewohner nach Neukölln. Die Idylle in der Großstadt müssen sie nun nach fast 30 Jahren räumen. Der Pachtvertrag wurde zwar mehrfach verlängert, ist aber Ende 2023 ausgelaufen.
„Jeder lebt hier seine Freiheit“, sagt Niedrich. Auf seinem rot-weißen Wagen steht „Circus Safari“. Er selbst sei vier Jahre mit einem Zirkus mitgefahren, erzählt der 71-jährige ehemalige Lehrer, der als Sprecher des Rollheimer-Dorfes fungiert. Seine Frau wohnt im Winter nicht im Wagendorf.
Niedrich zeigt das bunt angemalte „Radhaus Rollheimer Dorf“ in einem Bauwagen. In der Nähe teilen sich drei Frauen, die in eigenen Wagen leben, eine Küche. „Hier lernt man mit Nachbarschaft umgehen“, sagt er. Auf dem Gelände gibt es auch eine Futterstelle für Igel mit gewundenen Gängen, damit andere Tiere sie nicht nutzen.
Der Friedhof wird nicht mehr für Beisetzungen genutzt. Eichhörnchen suchen in Vogelhäusern nach Nahrung. Auf den Freiflächen gibt es Projekte des Prinzessinnengarten-Kollektivs, verwunschene Ecken zum Verweilen unter Bäumen und Platz zum Spielen für Kinder. Am Ende des Geländes versperrt ein Erdwall die Sicht auf die Bau- und Wohnwagen. Der Zugang zum Wagendorf verläuft durch ein bunt angemaltes Tor mit dem Foto des ehemaligen Standorts des Dorfes.
Die Bewohner suchen auch im Kontakt mit dem Bezirk und dem Friedhofsverband nach einem neuen Standort. Niedrich betont, sie wollten keine Baupläne verhindern: „Wenn etwas entsteht, gehen wir.“
Der Geschäftsführer des evangelischen Friedhofsverbands Berlin-Stadtmitte, Tillmann Wagner, betont, dass es sich um eine vom Bezirk geduldete Übergangsnutzung handle. Der Termin, zu dem die Flächen geräumt sein müssten, werde gemeinsam mit den Rollheimern und dem Bezirk festgelegt: „Sie werden nicht am 2. Januar Besuch bekommen und geräumt“.
Noch sei nicht klar, welche baulichen Möglichkeiten es auf dem Gelände gebe, sagt Wagner. Offen ist demnach, ob dort etwa eine Schule oder Wohnungen errichtet werden könnten. Laut Friedhofsentwicklungsplan bestehe die Möglichkeit, auf ungenutzten Flächen zu bauen, um Mittel für Erhalt und Unterhalt der verbleibenden Flächen zu generieren. Er wolle nicht im Streit mit den Bewohnern des Wagendorfes auseinandergehen, sondern „in aller Klarheit für alle Beteiligten“, betont der Geschäftsführer des Friedhofsverbands.
Der zuständige Neuköllner Stadtrat für Stadtentwicklung, Jochen Biedermann (Grüne), erklärt, Ziel sei es, eine Lösung zu finden, mit der alle Beteiligten gut leben könnten. Bisher sei das stets eine begrenzte Verlängerung gewesen. Gleichzeitig sei nach Ersatzflächen gesucht worden, „was im immer dichter bebauten Berlin jedoch schwieriger und schwieriger wird“.
Ungeachtet der ungewissen Zukunft baut ein junger Bootsbauer gerade einen neuen Wagen, der zwischen den Bäumen unter seiner weißen Plastikplane an eine für den Winter zugedeckte Yacht an Land erinnert. Gegenüber geht es durch ein Gartentor in das Reich von Karsten Zander. Der 74-Jährige ist der älteste der 25 Bewohner, zu denen auch zwei kleine Kinder gehören. Der Architekt zog in 90er Jahren mit seinen beiden Kindern in das Wagendorf am Potsdamer Platz, „weil es mir zu eng in der Wohnung wurde“.