Mitte Oktober war es soweit: Dick und fett prangte das Wort „ausverkauft“ auf der Internetseite eines Berliner Beauty-Unternehmens. Mehr als acht Wochen vor Weihnachten war deren Adventskalender vergriffen. Rund 100 Euro teuer, versprach der Kalender täglich Schönheits- und Pflegeprodukte im Wert von insgesamt 550 Euro. Bei Jungen und Mädchen ist der bayerische Spielzeughersteller Playmobil beliebt. Als erster Spielartikelproduzent hatte er vor rund 20 Jahren den Adventskalendermarkt für sich entdeckt. Wer auf die Homepage des Unternehmens geht, findet im produkteigenen Shop zwölf verschiedene Adventskalender für Kinder zur Auswahl. Der Markt für Adventskalender boomt und hat dabei nahezu jede Zielgruppe fest im Blick.
Einfach: 24 Kreidestriche an der Wand
Ob das im Sinne der Erfinderinnen liegt? Diese versuchten ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit kreativen Ideen, ihren Kindern die Wartezeit auf den Heiligenabend zu verkürzen. Die ersten Vorläufer des uns heute vertrauten Adventskalenders entstanden ungefähr zeitgleich an vielen Orten. Protestantische Familien feierten die Adventstage in familiärer Runde zu Hause, sie sangen oder lasen im Kerzenschein, feierten kurze Andachten. Und sie hängten bis zum Heiligenabend täglich ein kleines Bild mit weihnachtlichen Motiven auf. In anderen Gegenden malten Eltern mit Kreide 24 Striche an die Wand. Jeden Tag durfte das ungeduldig wartende Kind einen Strich wegwischen, bis endlich an Heiligabend die Wand sauber war.
Anderswo legten Kinder täglich eine Feder in die aufgestellte Krippe, damit das neugeborene Jesuskind ein weiches Bett vorfinden konnte. Andere unterteilten Kerzen in 24 Abschnitte und ließen sie so täglich ein kleines Stück runterbrennen oder sie bastelten Himmelsleitern mit 24 Stufen, auf denen das Jesuskind jeden Tag ein Stück näher zur Erde kletterte, bis es am 24. Dezember endlich angekommen war. Ideen gab es viele.
Der Hamburger Theologe Johann Hinrich Wichern leitete etwa zur gleichen Zeit das „Rauhe Haus“, eine Einrichtung für sozial benachteiligte Kinder. Um den Kindern das Warten auf das Weihnachtsfest erträglicher zu gestalten, zündete er täglich eine kleine rote Kerze an. An den vier Sonntagen wählte er eine große weiße Kerze. Später steckte er diese auf einen Holzring, den er eines Tages mit Tannengrün verzierte.
Die Idee, den wartenden Kindern die Tage zu verkürzen, hatte auch der Lithograph Gerhard Lang. Der schwäbische Pfarrerssohn aus Maulbronn erinnerte sich wohl an seine eigene Kindheit. Seine Mutter hatte auf einen Karton 24 Kästchen gezeichnet und jeweils ein kleines Gebäckstück eingenäht. Lang, mittlerweile Verleger, druckte einen Weihnachtskalender bestehend aus zwei Bögen: auf einem ein Bild, auf dem zweiten 24 Felder zum Ausschneiden, um sie anschließend auf den anderen Bogen zu kleben. Bis Heiligabend entstand so Stückchen für Stückchen ein großes Bild. Das war 1904. Vier Jahre später druckte sein Verlag Reichhold & Lang die Kalender serienmäßig. Langs Ehrgeiz war gepackt: Er erarbeitete immer neue Varianten. Und schließlich solche, die mit Schokolade befüllt und deren Bilder Türchen zum Öffnen hatten.
Adventskalender sind deutsche Exportschlager
Ob Gerhard Lang geahnt hat, was er eines Tages auslöst? Der Markt für Adventskalender ist zu einem riesigen Erfolgsmodell geworden. Sein Umsatz lag 2018 bei 98,3 Millionen Euro. Fünf Jahre zuvor waren es noch 71,83 Millionen Euro gewesen. Und das nicht nur in Deutschland. Der Adventskalender hat sich zu einem deutschen Exportschlager entwickelt. Der Spielfiguren-Hersteller Playmobil verkauft seine Kalender in Spanien, den Beneluxstaaten, aber auch in Australien, Mauritius, Hongkong und Singapur.
Für viele Deutsche gehört der Adventskalender dazu. Eine Umfrage von Statista im Jahr 2018 zeigt, dass sich die deutliche Mehrheit der Befragten (79 Prozent) für ein gekauftes Produkt entscheidet. 14 Prozent gaben an, ihren Kalender selbst zu basteln. Am häufigsten bekommen Kinder einen Adventskalender. Gerne werden sie aber auch unter Verliebten oder Ehepartnern verschenkt.
Geht es ums Füllmaterial, sind die Deutschen Naschkatzen – Süßigkeiten stehen hoch im Kurs. Danach folgen Kosmetika und Spielzeug. Fast jede Branche mischt im Adventskalender-Geschäft mit: Von Supermarktketten und Möbelhäusern über Kosmetikfirmen bis hin zu Gewürzfirmen und Buchverlagen bieten alle Kalender an.
Oft versprechen die Marken, dass der Wert der 24 kleinen Produkte den Kaufpreis des Kalenders bei Weitem übersteigt. Für die Unternehmen ist dies ein lohnendes Geschäft, weiß Alexander Haas von der Uni Gießen. „Für die Firma ist der Adventskalender eine Investition in die Kundengewinnung. Menschen, die sich das jeweilige hochpreisige Produkt sonst nicht gekauft hätten, greifen nun zu“, sagt der Marketingforscher. Hat es der Kunde erstmals in seinen Händen, steigt die Chance, dass er es wieder kauft – ohne Adventskalender.
Werbung: Kalender mit Blick auf Name und Logo
Dazu kommt: Steht der Adventskalender erstmal im Wohnzimmer eine Familie, bedeutet dies für die Marke eine 24-tägige „Inhome-Werbung“. Dauerhaft steht er jeden Tag im Dezember für einen Moment im Mittelpunkt, fällt der Blick auf das Logo und den Namen der Marke.
Doch es gibt auch abseits der wirtschaftlichen Maschinerie Möglichkeiten. Nämlich die selbst gestalteten oder selbst gebastelten Kalender. Und diese sind mindestens genauso beliebt wie gekaufte Produkte. Spätestens ab Oktober überschlagen sich Jahr für Jahr Hobby-Künstler mit kreativen Einfällen und posten diese dann in den sozialen Netzwerken. Wer Inspirationen für Selbstgemachtes braucht, wird dort zweifellos fündig.
Auf der Suche nach Ideen ist auch Pfarrerin Annegret Schilling – allerdings nur alle zwei Jahre. Dann füllt sie 24 kleine Säckchen mit Überraschungen für eine befreundete Familie in Kanada. Im Jahr darauf kommt der Adventskalender befüllt aus Kanada wieder zurück. So wandert der Adventskalender für mittlerweile sechs Kinder Jahr für Jahr über Kontinente.