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Jahrzehnte nach dem Erdbeben leben viele Armenier im Elend

Durch das schwere Erdbeben 1988 verloren rund 500.000 Menschen in Armenien ihr Zuhause. Manche müssen bis heute in ärmlichen Hütten leben. Besonders betroffen sind ältere Menschen.

Karine Mkrtchyan stützt sich schwer auf ihre Krücken, als sie die Tür der rostigen Hütte öffnet. Eigentlich sollte es nur eine vorübergehende Unterkunft sein, doch sie lebt noch immer hier, am Rand von Armeniens zweitgrößter Stadt Gjumri. Im Flur große braune Feuchtigkeitsflecken an den Wänden, im kleinen Wohnzimmer liegen alte Teppiche. “In dieser Hütte zu leben, ist nicht schön. Eine kleine Einzimmerwohnung würde mir schon reichen”, sagt die 70-Jährige.

Selbst in den bitterkalten Wintern muss sie sich zum kleinen Klohäuschen nach draußen schleppen, auch wenn sie vor Schmerzen kaum gehen kann. Eine Spätfolge des Bebens: Wie immer war Karine Mkrtchyan am 7. Dezember 1988 in die Textilfabrik gegangen, bis um 11.41 Uhr die Erde bebte: “Ich bin aus dem Fenster im zweiten Stock gesprungen und habe mir das Bein gebrochen. Durch die Kälte in dieser Hütte hat sich meine Gesundheit verschlechtert. Die Feuchtigkeit hat meinen Knochen zugesetzt.”

Fünf Operationen haben ihren Gesundheitszustand nicht gebessert. Heute lebt sie von monatlich umgerechnet 153 Euro Rente. Lange hat sie sich als Schneiderin etwas dazuverdient. Die graue Nähmaschine steht noch in der Ecke. “Doch vor Schmerzen kann ich nicht mehr lange genug sitzen”, sagt sie leise.

Ohne die Hilfe der örtlichen Caritas würde es gar nicht gehen. Sie bezahlt Medikamente und Strom, damit Karine ihre Hütte in den bitterkalten Wintern wenigstens heizen kann, wenn die Temperaturen manchmal auf zweistellige Minusgrade fallen. Regelmäßig kommt eine Sozialarbeiterin vorbei und hilft bei der Hausarbeit.

Doch den Traum von einem eigenen Apartment kann die Caritas ihr nicht erfüllen. “Dafür haben wir nicht die Mittel”, sagt Caritas-Direktor Gagik Tarasyan. Auch Armeniens Regierung konnte nicht allen Überlebenden richtige Unterkünfte anbieten, obwohl erste Hilfsprogramme bald nach dem Beben begannen: Nach dem Ende der Sowjetunion stürzte das Land in eine schwere Wirtschaftskrise. Der Krieg mit Aserbaidschan um die umstrittene Region Bergkarabach Anfang der neunziger Jahre belastete den Staatshaushalt zusätzlich.

Öffentliche Institutionen haben zahlreiche Wohnungen gebaut, doch nach Medienberichten gibt es noch einige tausend bewohnte Hütten. Auf dem freien Wohnungsmarkt haben Überlebende des Erdbebens keine Chance auf eine bessere Unterkunft: “In Gjumri Wohnungen zu kaufen oder zu bauen ist sehr teuer. Das können sich die Überlebenden nicht leisten”, sagt Caritas-Chef Tarasyan. Und auch nicht mieten.

Das trifft auch auf Levon Peloyan zu. Seine grüne Hütte, wenige Kilometer von Karine Mkrtchyans entfernt, hat er nach dem Erdbeben selber gebaut. Zerfallene Styropor-Platten im Innern sollen im Winter vor der Kälte schützen. Im kleinen Gärtchen neben der Eingangstür wachsen Erdbeersträucher und Kirschbäume, die seine Kinder vor über 30 Jahren gepflanzt haben. “Ich habe mich an diese Unterkunft gewöhnt. Ich stehe auf, gehe in meinen kleinen Garten und pflücke Obst von den Bäumen”, sagt Levon. Das fällt dem 69-Jährigen immer schwerer: Arthrose und Herzprobleme machen ihm zu schaffen.

Sein Bett dient zugleich als Sofa, das kleine Zimmer ist Wohn- und Schlafraum in einem. Seit dem Tod seiner Frau lebt er allein. Sein Sohn ist Soldat und weit weg stationiert, die Tochter lebt mit den Enkeln in Moskau. Immer wieder fällt sein Blick auf ein Bild mit grünem Rasen und einer roten Rose an der Wand, dass seine Enkelin gemalt hat.

Als die Erde 1988 bebte, war er gerade im Institut für Lehrerfortbildung. “Wie durch ein Wunder bin nicht nur ich verschont worden, sondern auch meine Angehörigen”, berichtet Peloyan. Seine Frau war damals mit dem zwei Monate alten Sohn zuhause, das große Kind im Kindergarten. Rund 25.000 Menschen kamen damals um. Die Schule, in der er arbeitete, stürzte ein. Zeitweilig unterrichtete er in Zelten. “Der Umgang mit den Kindern hat mir geholfen, die Probleme durch das Erdbeben zu vergessen”, sagt Levon.

Mit rund 100 Euro Rente im Monat glaubt auch Levon nicht daran, dass er noch mal in einer richtigen Wohnung wohnen wird. Auch er kommt schon jetzt nicht ohne Hilfe der Caritas über die Runden. “In meinem Alter möchte ich keine neue Wohnung haben. Selbst wenn ich eine bekommen würde, wäre es schwierig. Zum Beispiel könnte ich zu Fuß nicht mehr in den zweiten Stock kommen”, sagt Levon, als er die Tür schließt.