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Ich schaffe das!

Die Menschen brauchen etwas, woran sie sich festhalten können. Oft sind das Dinge, die sich nicht mit dem Verstand begründen lassen. Diese Strategie kann durchaus helfen. Aber sie birgt Gefahren

Ich wähnte mein letztes Stündlein geschlagen. Im tiefsten Busch von Afrika lag ich in einer Hütte, mein Körper rebellierte gegen eine Lebensmittelvergiftung. Kein Arzt, kein Krankenhaus. Nur eine alte Frau, die eine Kette mit Federn und Knochenstücken über mir pendeln ließ. Daneben unsere Dolmetscherin, die zwar kein Erste-Hilfe-Set hatte, dafür Globuli-Kügelchen in mich reinstopfte. Und mein umnebelter Verstand, der ein Vaterunser nach dem anderen in den Himmel schickte.
Ob am Ende irgendetwas davon den Ausschlag gab? Am nächsten Morgen war ich über das Gröbste hinweg. Sowohl Dolmetscherin als auch Dorfheilerin schauten mich triumphierend an: Siehst du, meine Behandlung hat geholfen. Und auch ich faltete die Hände: „Danke, lieber Gott, dass du mein Gebet erhört hast.“

Wenn die Menschen in Not sind, brauchen sie etwas, woran sie sich festhalten. Das kann sehr unterschiedlich aussehen. Für das Kind, das sich die Knie aufschlägt, mag es die Mutter sein. In den Arm genommen. Getröstet und gestreichelt. Und, ganz wichtig: auf die Wunde gepustet. Für den Sportler, der sich den Knochen gebrochen hat, mag es die unbändige Zuversicht sein: Ich schaffe das! Und für einen Menschen in Not vielleicht eine Liedzeile, von Kindestagen an vertraut.

In der Medizin gibt es den Begriff „Placebo“ (lateinisch: „Ich werde gefallen“). Ein Scheinmedikament, das hilft, obwohl es keine Wirkstoffe enthält – die Menschen müssen nur fest daran glauben, dass jetzt Hilfe im Anmarsch ist.

Auch der christliche Glaube wird von manchen Zeitgenossen ja als Placebo angesehen; als fromme Selbsttäuschung: Mag manchmal helfen; vor allem bei Trauer, Not, Einsamkeit. Aber insgesamt, so das weitverbreitete Vorurteil der vermeintlich „Aufgeklärten“, sei Glaube doch ein Selbstbetrug. Nun ja.

Interessant ist, dass so Manche, die über den Glauben die Nase rümpfen, bei näherem Hinsehen dann doch ihren eigenen Unvernünftigkeiten anhängen. Die Yogalehrerin, die zu schamanischen Klangritualen meditiert. Der Heilpraktiker, der seine Patientin Wasser quirlen und Beschwörungssätze aufschreiben lässt („ich befehle, dass mein Bewusstsein Corona-Antikörper produziert“). Oder die Globuli-Apotheke, für deren Wirksamkeit es noch immer keinen wissenschaftlichen Beleg gibt.

Das muss es ja auch gar nicht. Wenn ein Placebo wirkt, umso besser. Solange es nicht schadet.
Aber hier liegt der Hase im Pfeffer. Denn Placebos können durchaus gefährlich werden. Wenn sie nämlich den Zugang zu anderen, hoffnungsvolleren Medikamenten oder Therapien verstellen.

Im Busch von Afrika gab es damals keine Wahl. Aber wer als Krebspatient ausschließlich alternative Heilung sucht, wer auf Wasser quirlen statt Impfen setzt, wer seine gesamte Not und Pein allein im Gebet aushandeln will, ohne jemals Fachleute aufzusuchen – der mag den Glauben und die Hoffnung dann vielleicht auch überstrapazieren.

Die Menschen brauchen etwas, woran sie sich festhalten können. Gesegnet sind sie, wenn sie das Richtige finden.