Wieviel Freiheit braucht der Mensch? Wieviel verträgt er? Was der evangelische Glaube damit zu tun hat – darüber sprach Gerd-Matthias Hoeffchen mit Michael Krause, Superintendent des Kirchenkreises Herford und Vorsitzender des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche von Westfalen.
„Regel Nummer eins: Jeder macht Seins.“ Ist das die Botschaft der Reformation?
Nein. Die Botschaft ist die Wiederentdeckung der freien Gnade Gottes – ich muss mir Gottes Liebe nicht erst verdienen; er nimmt mich an, wie ich bin.
Fördert dieses Bewusstsein nicht automatisch die Tendenz zur Beliebigkeit?
Das wirft man der evangelischen Kirche ja oft vor. Tatsache ist, dass uns das Evangelium aus Zwängen und Abhängigkeiten löst: Niemand schreibt mir vor, was ich zu glauben habe, was falsch ist oder richtig. Das muss letztlich jeder selbst vor Gott und dem Gewissen ausmachen. Das ist die evangelische Freiheit.
… die aber auch zu Verunsicherung führen kann.
In der Tat: Der Mensch sehnt sich nach Sicherheit, Orientierung, Wegführung, auch in Glaubensdingen. Die gibt es ja auch: in der Bibel, in den Bekenntnisschriften, im Hören auf die Predigt, im Gebet, in Gespräch und Austausch der Christinnen und Christen. Aber grundsätzlich ist diese Spannung im evangelischen Glauben angelegt: Wir sind frei – und suchen in dieser Freiheit nach Orientierung.
Suche nach Orientierung – im März veranstaltet die Evangelische Kirche von Westfalen das Symposium „Die Entdeckung des Individuums“. Dient diese Tagung auch der Orientierung?
Auf jeden Fall. Beim Symposium gehen wir genau dieser Frage nach: Wie hat die Reformation die Moderne und das Denken vom Individuum her geprägt?
Klingt anspruchsvoll.
Man hat in den vergangenen Monaten ja gelegentlich den Vorwurf gehört, bei den Veranstaltungen zum Reformationsjubiläum kämen die Inhalte des evangelischen Glaubens zu banal rüber. Das kann man dieser Tagung jedenfalls nicht vorwerfen.
Eine Veranstaltung also eher für Akademiker und Spezialisten?
Würde ich nicht sagen. Es ist ein wissenschaftliches Symposium, aber sicher auch für Laien lohnend, die Interesse haben und sich gern mal einen Vortrag oder eine Diskussion mit einem gewissen Anspruch anhören.
Was wird uns bei diesem Symposium erwarten?
Am ersten Tag geht es um die Frage: Wie ist die Individualisierung, das Denken vom Einzelnen her, in Gang gekommen? Entfaltet wird das in drei Vorträgen. (Anm. d. Red.: Informationen zur Tagung siehe unten.)
Hoch interessant dürfte dabei das Referat von Brad Gregory sein. Gregory ist Historiker an der University of Notre Dame in Indiana in den USA. Er vertritt die Ansicht, dass die Reformation nicht nur erheblich für die Individualisierung verantwortlich ist, sondern – unbeabsichtigt, aber im Sinne einer übers Ziel hinausschießenden Entwicklung – auch für die schwindende Bedeutung der Religion in der Neuzeit.
Diese These ist in der Theologie hoch umstritten; es dürfte also spannend werden.
Und am zweiten Tag?
Werden wir noch einmal aus anderen Blickwinkeln aufs Thema schauen. Bildung und Engagement für den Nächsten werden eine Rolle spielen, die Bedeutung des Körpers und der Leiblichkeit – und eben auch die Spannung, von der wir eben sprachen zwischen Freiheit und Unsicherheit.