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Hoffnung zwischen grauen Zelten

Für die Vertreter von „Hoffnungsschimmer“ ist das Leid der Menschen in einem Flüchtlingslager in der Türkei schwer zu fassen. Die große Solidarität der Kurden beeindruckt sie. Mit Lebensmitteln und einer Schule wollen die Deutschen helfen

Ihre Trauer hält sie zwischen den Deckeln einer kleinen Kladde gefangen. Als Awan den glitzern-silbernen Umschlag öffnet, bricht sich eine düstere Gedankenwelt Bahn. „Wann hören Folter und Morde auf? Oh, Dunkelheit, wann wirst du vorübergehen, oh Schicksal, was hast du für uns vor?“, ruft die 13-Jährige als Refrain in den scharfen ostanatolischen Wind. Auf Applaus und stille Tränen der Besucher aus dem Münsterland haucht das Kind, das selbst um diesen „Auftritt“ gebeten hat, ein leises „Thank you“ in die Gasse zwischen grauen Zelten in dem Dörfchen Korex nahe Batman.
Dort liegt eines der Flüchtlingslager, das die Vertreter der Hilfsinitiative „Hoffnungsschimmer“ besucht haben. Das Mädchen, das dem Leid so eindrucksvoll ihre Stimme leiht, stammt aus Shingal. Das kurdische Gebiet in Nordirak hat sie Hals über Kopf verlassen, als die Terroristen des so genannten Islamischen Staates (IS) anrückten.
Die Familie von Awans Großeltern wurde trotzdem vom Terror heimgesucht: Von zwei Söhnen und ihren Frauen fehlt jedes Lebenszeichen. Die Männer sollen hingerichtet, die Mütter als Sklavinnen verkauft worden sein, schildern Angehörige. Ein weiteres Mitglied des Clans habe die Traumata nicht verwunden, die es erlebt hat. Als „unzurechnungsfähig“ beschreiben die Großeltern den Zustand. Ihre zweijährige Enkelin Angelina, die den Arm der Oma nicht verlassen mag, wächst als Vollwaise auf.

Kinder sprechen seit ihrer Flucht nicht mehr

Das ist kein Einzelfall. Der erste Eindruck, wenn Kinder zwischen der Tristesse der Zeltplanen unbefangen toben, täuscht allzu leicht darüber hinweg, wie ihre Seelen geschunden worden sind. Der Krieg um Kobane hat bei Romi und Rawan jeden Kinderlaut erstickt, zwei und vier Jahre alt. Seit ihrer Flucht aus Syrien bringen seine Kinder kein Wort mehr über die Lippen, berichtet ihr Vater Salah. Hilfe ist nicht in Sicht, auch nicht für ihn selbst. Seine Augen, deren Weiß sich in ein Braun-Rot von entzündeten Adern verwandelt hat, blicken ins Leere.
Aber immerhin, das Camp bietet Sicherheit, wenn auch keine Perspektiven. Die pingelig sauberen Zelte, in denen sich Teppiche und Matratzen akkurat stapeln, trotzen mit Palettenboden und Ofen dem harschen Winter. In einer Gemeinschaftsküche übernehmen Flüchtlinge zumindest in diesem Lager selbst die Schichten an großen Töpfen und die Schule im großen blauen Zelt halten Lehrer aufrecht, die ebenfalls Heimat, Hab und Gut und oft auch Angehörige verloren haben.
Dafür, dass das Gemeinwesen der Zeltstadt funktioniert, sorgt unter anderem Ali. Der 38-jährige Mediengestalter, der vor Jahren von Neuss in die Türkei gezogen war, begleitet seit dem Sommer die Menschen in dem Camp. „Für mich war das gar keine Frage, mich einzusetzen“, sagt der Werbefachmann, der in Deutschland aufgewachsen ist. Seinen Hauptberuf in einer Agentur in Batman versieht er nachts. Mit seinem Engagement setzt er die Beziehung zu seiner Freundin aufs Spiel.
„Die Solidarität der Kurden beeindruckt uns sehr“, fasst Stefan Benecke, Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Senden und Angehöriger der Initiative Hoffnungsschimmer, seinen Eindruck zusammen. Das gilt auch auf der übergeordneten Ebene: Die Union der Städte und Gemeinden in Südost-Anatolien (GABB) springt in die Bresche, weil sich der türkische Staat um die kurdischen Flüchtlinge wenig schert.
Die Hilfe überwindet die religiösen Grenzen innerhalb dieser Volksgruppe, zu der Muslime ebenso gehören wie Jesiden oder weitere religiöse Minderheiten. Die Gemeinden, die selbst kaum finanziell über die Runden kommen, sowie die Bevölkerung stehen den Vertriebenen zur Seite. Rund 220 000 Flüchtlinge zählt die Union (GABB) in ihren Camps, seit IS-Kämpfer im August das Shingal-Gebiet überfallen haben.

Aktion Hoffnungsschimmer setzt auf akute Hilfe

Die Standards in den Lagern schwanken erheblich. Die türkisch-syrische Grenzstadt Suruç ächzt am stärksten unter der Last des Krieges in der Nachbarstadt Kobane.  Zu den 100 000 Einwohnern sind seit dem IS-Terror 60 000 Flüchtlinge hinzugeströmt. Die Aktion Hoffnungsschimmer setzt auf akute Hilfe und kauft vor Ort Lebensmittel und Hygienebedarf, die den ärmsten unter den Flüchtlingen in der Türkei zugute kommen sollen. Über die Nothilfe hinaus stehen mittelfristig der Bau einer Schule und das Fördern von Bildung auf der Agenda. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg.
Der Krieg tobt noch, als sich die Besucher aus dem Münsterland an der Grenzlinie zu Syrien in die Menschenkette einreihen, die verhindern soll, dass Dschihadisten nach Kobane, das nur wenige Hundert Meter entfernt liegt, durchsickern. Erst auf dem Rückweg wird der Reisegruppe die Brisanz schlagartig klar – als sie erfährt, dass die Menschenkette noch am Vortag beschossen worden ist.  
Dass der Tod überall lauert, wird auch auf dem Weg zum Grenzstreifen deutlich: als der Fahrer der Stadtverwaltung, Mustapha Kolai, auf den beigefarbenen Toyota-Van vor ihm zeigt und, beinahe beiläufig, berichtet, dass darin ein YPG-Kämpfer, der in Kobane verwundet und im Krankenhaus in Suruç gestorben ist, zur Beisetzung nach Syrien transportiert wird.
Die Rückkehr für die Flüchtlinge stellt sich auch nach dem Sieg der Kurden über die IS in Kobane als schwierig dar. Denn von der Stadt ist praktisch nur eine Trümmerwüste übrig geblieben.
Den Heimweg ins Shingal-Gebiet wollen die Vertriebenen ebenfalls zumeist nicht antreten. „Ich bin von meinen eigenen Nachbarn verraten worden“, begründet beispielsweise Hadi, dass er seine Heimat endgültig verloren hat. Der 25-jährige Jeside, der im Nordirak Englisch studiert hat, sieht nur die Europäische Union als Ausweg: „Zur Not schlage ich mich zu Fuß über Bulgarien in den Westen durch.“