Wäre Martin Luther zu einem Psychotherapeuten gegangen, hätte der bei ihm vermutlich eine religiöse Zwangsstörung diagnostiziert. Seine Angst vor einem strafenden Gott und vor dem Höllentod war mächtig. Größer als die Angst vor dem Feuertod und der Macht des Kaisers. Luthers Beispiel zeigt aber, dass religiöse Zwänge zu bewältigen sind. Der Reformator hat dies mit einer Theologie der Gnade Gottes geschafft.
Religiöse Zwänge sind schwer erkennbar
Heute schätzt man, dass rund zwei Millionen Menschen in Deutschland unter einer Zwangserkrankung leiden. Davon haben mindestens 118 000 Betroffene einen religiös-moralischen Zwang, wie Burkhard Ciupka-Schön berichtet. In seinem Buch „Himmel und Hölle“ schreibt der Psychotherapeut zusammen mit dem Pfarrer Hartmut Becks darüber, wie man religiöse Zwänge erkennen und bewältigen kann. Ciupka-Schön vermutet, dass die Zahl der Menschen mit einer religiösen Zwangsstörung noch höher liegt.
Zu erkennen, dass jemand an einem religiösen Zwang leidet, ist nicht leicht. „Den Betroffenen ist es auf dem ersten Blick nicht anzusehen, dass sie unter ihren religiösen Vorstellungen leiden“, so Ciupka-Schön. Er rät ihnen, auf jeden Fall Hilfe und Rat bei Fachleuten zu suchen.
In einem Fallbeispiel berichtet ein Mann, er habe das Gefühl gehabt, der allerschlimmste Mensch auf der Welt zu sein. Er hatte gotteslästerliche Gedanken und war davon überzeugt, sich niemandem anvertrauen zu können. Seine Angst vor der Strafe Gottes und vor den Höllenqualen nach dem Tod war übermächtig. Geholfen hat ihm die Sehnsucht nach einem guten Gott statt seines Angstgottes. Er hat es geschafft, zu einem Therapeuten zu gehen und sich helfen zu lassen.
Wer an religiösen Zwangsgedanken leidet, versucht diese durch Zwangshandlungen zu neutralisieren – etwa durch besonders viel beten, intensives Bibellesen oder andere Rituale. Doch der Zwang hält nicht, was er verspricht: „Exzessives Beten oder Beichten kann die Angst vor Gott bekräftigen und eine echte Nähe zu Gott zerstören“, so Ciupka-Schön. Doch es ist schwierig, herauszufinden, ob ein Mensch seinen Glauben intensiv lebt oder ob die Gedanken und Taten ins Zwanghafte abgleiten.
Allerdings beschreibt Ciupka-Schön ein Merkmal: die zwanghafte Rückversicherung. Darunter versteht er das Verlangen danach, dass „außenstehende Menschen den Betroffenen Gewissheit darüber vermitteln, dass bestimmte Katastrophen nicht eintreten“. Das gibt es sowohl bei religiösen wie auch anderen Zwangserkrankungen. Wenn etwa jemand fragt, durch welche Taten Menschen in die Hölle kommen und mehrmals die Antwort darauf hören will, könnte das auf einen Zwang hinweisen. Doch Zwangskranke sind erfinderisch und formulieren ihre Fragen immer wieder anders. Außerdem sind sie überwiegend freundliche und zuvorkommende Menschen. Durch ihre Dankbarkeit können sie sicherstellen, dass der Experte auch in Zukunft für Rückversicherungen zur Verfügung steht.
„Ohne ein gewisses Maß an Krankheitseinsicht und Offenheit ist der Befund einer Zwangsstörung schwierig“, so Ciupka-Schön. Denn sie finden überwiegend im mentalen, nach außen verborgenen Bereich statt. Hilfreich sind Fragen danach, ob jemand häufig Gedanken hat, die sich auf Hölle, Verdammnis und andere, weltliche Katastrophen beziehen. Und ob der Betroffene diese Gedanken durch regelmäßige wiederkehrende Verhaltensweisen neutralisieren will.
Strenge religiöse Erziehung als eine Ursache
Die meisten Zwangserkrankungen haben ihren Ursprung in der Kindheit und Jugend. Spätestens im jungen Erwachsenenalter. Für eine wesentliche Ursache hält Ciupka-Schön eine zu strenge religiöse Erziehung. Aber auch genetische Faktoren und eine selbstunsichere Persönlichkeit können zu einer Zwangsstörung beitragen. Nach der Erfahrung des Psychotherapeuten treten religiös-moralische Zwänge gemeinsam mit anderen Zwängen auf, zum Beispiel einem Wasch- oder Kontrollzwang.
In der Regel sind Zwangsstörungen gut zu behandeln. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt den Einsatz der kognitiven Verhaltenstherapie. Je früher Betroffene Hilfe suchen, desto wahrscheinlicher ist ein guter Erfolg.
Buchhinweis: Burkhard Ciupka-Schön, Hartmut Becks: Himmel und Hölle. Religiöse Zwänge erkennen und bewältigen. Patmos Verlag, 192 Seiten, 17 Euro.