Karl Schlögel (76), Osteuropa-Historiker und Publizist, hat in Düsseldorf den mit 100.000 Euro dotierten Gerda-Henkel-Preis erhalten. In seiner Preisrede forderte Schlögel einen neuen Blick auf Russland. “In einer Zeit, in der Russland zum Gegner, zum Feind geworden ist und ins Abseits der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu geraten droht, muss die Losung lauten: Jetzt erst recht! Nicht nur Ukraine-, sondern auch Russlandstudien auf der Höhe der Zeit!” Zugleich rief der Historiker zu Solidarität mit den politisch Verfolgten in Russland und im Exil auf.
Der Gerda-Henkel-Preis gehört zu den wenigen hoch dotierten Auszeichnungen auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften. Schlögel werde geehrt, weil er auf eindrückliche Weise zeige, “dass historische Urteilskraft und stetige kritische Selbstreflexion unerlässlich sind, wenn wir die Konflikte der Gegenwart angemessen verstehen wollen”, hieß es zur Begründung.
Unter anderem mit “Der Duft der Imperien. Chanel No. 5 und Rotes Moskau” (2020), “Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt” (2017) und “Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen” (2015) zeichnete der Historiker die Geschichte der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten immer wieder auf unkonventionelle Weise nach. Zuletzt erschien von ihm “American Matrix. Besichtigung einer Epoche” (2023).
Schlögel: Putin genauer unter die Lupe nehmen
In einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) warnte Schlögel vor vereinfachenden Urteilen über Russlands Präsident Wladimir Putin. “Ich denke, dass die Herausforderung gerade darin besteht, ihn als eine wirklich neue Figur zu verstehen, die hervorgegangen ist aus dem Zerfall des russisch-sowjetischen Imperiums.” Man finde bei Putin einerseits vormoderne, autoritäre und archaische Elemente. “Andererseits ist er jemand, der gewieft ist und virtuos mit den Mitteln der postmodernen medialen Choreographie umgehen kann.” Das mache die Auseinandersetzung mit Putin so schwierig.
Schlögel studierte Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik an der Freien Universität Berlin. Er wurde 1981 promoviert und wirkte zunächst als freiberuflicher Übersetzer, Publizist und Autor, bevor er 1990 auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Universität Konstanz berufen wurde. 1995 wechselte er an die Europa Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, wo er bis 2013 lehrte. Für sein Werk erhielt der Wissenschaftler zahlreiche Auszeichnungen, darunter 2018 den Preis der Leipziger Buchmesse.
Gerda-Henkel-Preis wird alle zwei Jahre vergeben
Die in Düsseldorf ansässige Gerda-Henkel-Stiftung verleiht den Preis seit 2006 alle zwei Jahre an Wissenschaftler, die in den von ihr unterstützten Disziplinen und Förderbereichen herausragende Forschungsleistungen erbracht haben und weitere erwarten lassen. Zu den bisherigen Preisträgern gehören der Konstanzer Historiker Jürgen Osterhammel sowie die australisch-britische Luther-Biographin Lyndal Roper und die US-amerikanische Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston.