Warum wählen in Ostdeutschland so viele Menschen, auch junge, die AfD? Historiker Kowalczuk führt das auf die Sozialisation in den DDR-geprägten Familien zurück. Und er zweifelt am freiheitlichen Denken im Osten.
Vielen Menschen in Ostdeutschland können sich aus Sicht des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk weiterhin nicht vom autoritären Staatsverständnis der ehemaligen DDR lösen. “Womit Ostdeutsche offenbar ein Problem haben, ist der freiheitliche Staat”, sagte der 1967 in Ostberlin geborene Wissenschaftler der “Welt” (Donnerstag). Stattdessen hingen sie autoritären Führungspersonen wie Russlands Präsident Wladimir Putin oder dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban an und sehnten sich “nach einer Diktatur der Mehrheit”.
Kowalczuk führt das auf eine “Diktaturschädigung” zurück, die alle Menschen in der DDR erfahren hätten. “Jeder, der etwas anderes von sich behauptet, hat das Wesen diktatorischer Systeme nicht verstanden. Niemand entkam der Propaganda, niemand dem System der Lüge, der Kälte, des Hasses”, erklärte Kowalczuk. Das habe Spuren hinterlassen, die man sich bewusst machen müsse. “Viele haben aber weder das Interesse noch die Zeit oder die intellektuellen Möglichkeiten, um sich damit bewusst auseinanderzusetzen und es zu überwinden. Und wer es nicht überwindet, gibt es weiter, ob er will oder nicht.”
So sei auch zu erklären, dass viele junge Menschen in Ostdeutschland, die nach der Wende geboren wurden, bei Wahlen zu extremen Parteien neigten. “Der Abendbrottisch ist eine ganz entscheidende Sozialisationsinstanz”, so der Historiker. Vieles werde dort an die Kinder weitergegeben, auch Enttäuschung und Kränkung. Dass bei den kommenden Wahlen AfD und BSW gerade unter jungen Menschen in Ostdeutschland viele Stimmen erwarten können, sei Ausdruck dieser “Familiensozialisation”.
Kowalczuk gehörte nach der Wiedervereinigung zeitweise der Enquete-Kommission des Bundestages zur Aufarbeitung der SED-Diktatur an. Sein jüngst erschienenes Buch “Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands seit 1989” analysiert das Verhältnis der ostdeutschen Bevölkerung zur freiheitlichen Demokratie nach der Wende.