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“Hidden Champion” mit nur einer Zelle

Auch Einzeller können Karriere machen: Ein keulenförmiges Bakterium hat sich aus den Abwässern dieser Welt nach oben gearbeitet und ist heute ein „Hidden Champion“ der Lebensmittelindustrie. Und Forschung und Industrie hoffen, dass Corynebacterium glutamicum – so der wissenschaftliche Name – noch mehr für die Menschen tun kann. Die Vereinigung für Allgemeine und Angewandte Mikrobiologie in Frankfurt am Main hat das Bakterium zur Mikrobe des Jahres 2025 gewählt.

Der kometenhafte Aufstieg beginnt in den 1950er Jahren. Zwei japanische Forscher suchen Bakterien, die einen herzhaften Geschmack produzieren können, der „umami“ genannt wird. Ausgelöst wird der Geschmack durch Natriumglutamat, der unter anderem in Schinken, Parmesan und reifen Tomaten vorkommt. Im Keulenbakterium, das sich damals noch bevorzugt im Abwasser tummelt, entdecken sie diesen Produzenten – und setzen ihn in der Nahrungsmittelindustrie ein.

Bei der Herstellung des Glutamats ist diese Mikrobe inzwischen unangefochtene Königin. Pro Jahr werden mehr als 3,5 Millionen Tonnen des Geschmacksverstärkers produziert, das meiste davon über Ausscheidungen des Bakteriums. Aus der asiatischen Küche, aber auch aus Fertigprodukten ist dieses Würzmittel nicht mehr wegzudenken.

Die fleißige Zelle kann aber mehr. Auch die Aminosäure Lysin bringt sie hervor – und darauf stürzen sich die Hersteller von Tierfutter und Nahrungsergänzungsmitteln. Die knapp zwei Millionen Tonnen Lysin, die jährlich weltweit produziert werden, stammen aus dem Stoffwechsel des Keulenbakteriums.

Nach und nach haben Forscherinnen und Forscher festgestellt, dass sich seine Erbinformationen vergleichsweise leicht manipulieren lassen. Das interessiert auch Universitäten in Baden-Württemberg. So wird in Stuttgart mit Veränderungen der Stoffwechselwege verschiedener Mikroben experimentiert, darunter Corynebacterium glutamicum. Man will Methoden finden, weitere Aminosäuren oder sogenannte Feinchemikalien von dem Einzeller produzieren zu lassen.

In Tübingen hat eine Studentin in ihrer Masterarbeit ein Computermodell des Bakteriums entworfen. Auch Vitamine kann die Mikrobe nach entsprechender Manipulation herstellen. Zur Energiegewinnung soll die keulenförmige Zelle ebenfalls beitragen, indem sie etwa Pflanzenabfälle wie Orangenschalen verwertet und damit die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen reduziert.

Chancen sehen Wissenschaftler zudem für eine pharmazeutische Nutzung der Mikrobe. Die Bakterien sind verwandt mit dem Erreger der Lungentuberkulose, die jedes Jahr rund 1,5 Millionen Menschen das Leben kostet. Aufgrund von Ähnlichkeiten im Aufbau der Zellwand besteht Hoffnung, über Corynebacterium neue Angriffspunkte von Medikamenten gegen den tödlichen Erreger zu entdecken.

Übrigens gibt es neben der Mikrobe des Jahres auch noch den Einzeller des Jahres – das ist 2025 Coleps, ein Geißeltierchen, das sich mit Panzerplatten umhüllen kann. Der Unterschied: Mikrobe ist der übergeordnete Begriff. Er umfasst neben Einzellern auch Mehrzeller wie bestimmte Pilze und Algen, aber auch die sehr viel kleineren Viren, die nicht als Einzeller gelten. Fast jeder Einzeller ist also eine Mikrobe, aber nicht jede Mikrobe ist ein Einzeller. Allerdings: Wenn ein Einzeller so riesig ist, dass er mit bloßem Auge erkennbar wird, zählt man ihn nicht mehr zu den Mikroben.