Selten zuvor waren bei einer Präsidentschaftswahl in den USA die Stimmen der Latinos so umkämpft. Mit knapp 20 Prozent repräsentieren sie die größte Bevölkerungsminderheit, um die Donald Trump und Kamala Harris werben.
Die 36 Millionen wahlberechtigten Latinos in den USA gelten als schlafender Riese, aber auch als komplizierte Wählergruppe. Das hat geografische, soziologische und religiöse Gründe. Beide Präsidentschaftskandidaten versuchen, den Riesen im Wahlkampf mit neuen Mitteln zu wecken, um in den Swing States die entscheidenden Stimmen zu erhalten.
2020 stimmten 65 Prozent der Latinos für Joe Biden. An diese Marke kommt Kamala Harris bislang nicht heran. Laut einer Pew-Umfrage vom September führt sie unter Latino-Wählern insgesamt mit 57 Prozent. Donald Trump kommt demnach auf 39 Prozent.
Harris hat sich im Wahlkampf von der sogenannten Identitätspolitik verabschiedet, die die Demokraten in der Vergangenheit traditionell verfolgt haben. Sie spricht die Latinos gezielt nicht mehr als einheitliche Bevölkerungsgruppe an. Der Strategiewechsel zielt darauf ab, im vergangenen Jahrzehnt verlorene Unterstützung zurückzugewinnen. Harris konzentriert sich auf lokale Wählergruppen und versucht, auf deren Wünsche und Probleme einzugehen. Themen wie soziale Gerechtigkeit, eine Reform des Einwanderungsrechts, Abtreibung und wirtschaftliche Sicherheit zählen dazu.
Letzteres stellt auch Donald Trump in den Mittelpunkt. Beispiel Nevada: In dem umkämpften Bundesstaat mit rund 28 Prozent hispanischen Einwohnern steht die wirtschaftliche Situation ganz oben auf der Prioritätenliste. Inflations- und Arbeitsplatzängste treiben immer mehr traditionell demokratisch gesinnte Latinos den Republikanern zu. Die Wirtschaftskompetenz sehen sie eher bei Trump.
Im Fokus des Wahlkampfs steht auch die Grenzpolitik. Harris hat Position bezogen. In einem ihrer ersten Werbespots versprach sie, Tausende zusätzliche Grenzbeamte einzustellen, falls sie zur Präsidentin gewählt wird. Ende September legte sie bei ihrem ersten Besuch während des Wahlkampfs an der Grenze in Arizona nach. Sie forderte ein verschärftes Einwanderungs- und Asylrecht. Die USA hätten “die Pflicht, an unserer Grenze Regeln aufzustellen und sie durchzusetzen”, sagte sie. Das Echo unter hispanischen Wählern fällt geteilt aus.
Beim Thema Abtreibung zeigen Umfragen, dass sich etwa die Hälfte der US-Latinos einen legalen Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen wünscht. Vor allem Jüngere sprechen sich dafür aus. Experten rechnen damit, dass das Thema ein entscheidender Faktor bei den Wahlen sein wird, insbesondere in Staaten wie Arizona und Florida, in denen die Latino-Bevölkerung stark vertreten ist. Fast sieben Millionen Latinas im Alter von 15 bis 49 Jahren leben in Bundesstaaten mit Abtreibungsverboten.
Beide Kandidaten kämpfen auch um die Unterstützung religiöser Latinos. Mit 43 Prozent stellen Katholiken immer noch mit Abstand die größte Gruppe unter ihnen, 15 Prozent sind evangelikal. Beide Gruppen definieren sich als eher konservativ. 2020 profitierte Trump von ihren Stimmen. Anders ist die Ausgangslage bei nicht-religiösen Latinos, zu denen ein wachsender Teil der jüngeren Wähler zählt. Laut dem “National Catholic Reporter” wollen rund sechs von zehn im November für Harris stimmen.
Gerungen wird auch um die Mobilisierung von Nichtwählern unter den Latinos. Eine lohnende Strategie, denn Wahlregistrierung und Wahlbeteiligung in der Bevölkerungsgruppe lagen in der jüngeren Vergangenheit teils deutlich unterhalb des Durchschnitts.
Bei hispanischen Frauen führt Harris mit deutlichem Vorsprung. Da sie häufiger zur Wahl gehen als die Männer in ihrer Gruppe, könnte das am Wahltag den Ausschlag geben. Das Meinungsforschungsinstitut Equis Research kam im August zu dem Ergebnis, dass sechs von zehn Latinas in 13 umkämpften Bundesstaaten Harris unterstützen wollen, Trump nur gut ein Drittel. Die politische Aktivistin und Harris-Unterstützerin Ingrid Pino Duran schätzt den Einfluss der Latinas bei der Wahl sogar noch größer ein. Sie verweist auf deren Rolle in den Familien: “Was Mama sagt, wird gemacht!”