Artikel teilen:

Handwerk mit spitzer Feder

E-Mails haben handgeschriebene Briefe weitgehend verdrängt. Blick auf ein Kulturgut mit einer Jahrtausendgeschichte

mninni - stock.adobe.com

Er gehört auf die Rote Liste bedrohter Arten. Telefon und Fax hat er überlebt. Neue Feinde sind SMS, E-Mail und WhatsApp. Wird der Brief, diese Jahrtausende alte Form der Kommu-nikation, die Digitalisierung überleben?
Geordnete Gedanken auf schönem Papier: 2014 hat der australische Künstler Richard Simpkin erstmals den Welttag zu Ehren des Briefeschreibens am 1. September ausgerufen. Einerseits will der Fotograf moderne Kommunikationsmittel nicht verdammen. Zugleich aber verweist er darauf, dass ein handgeschriebener Brief mehr Individualität und Charakter vermittle als eine schnelle E-Mail.

Im Alten Ägypten wurde auf Papyrus geschrieben

Liebesbrief, Kondolenzschreiben oder Wunschzettel ans Christkind: Wie viele Briefe haben Sie im letzten Jahr geschrieben? Tatsächlich ist die Zahl von Briefen hierzulande noch erstaunlich hoch: 2017 stellten die mehr als 80 000 Briefträger der Deutschen Post rund 18 Milliarden Briefsendungen zu. Meist Geschäftsbriefe oder Rechnungen, Werbung und Mitteilungen der Ämter. Eher selten sind persönliche Schreiben. Insgesamt sei ein leichter Rückgang zu verzeichnen, teilte Pressesprecherin Britta Töllner mit. 2015 wurden noch mehr als 19 Milliarden verschickt.
Dabei können Briefe auf eine Tradition von fast 5000 Jahren zurückblicken. Die früheste Briefkultur lässt sich ins Alte Ägypten zurückdatieren, wo die Menschen bereits im 3. Jahrtausend vor Christus Papyrus herstellten. Ein staatliches Postsystem wurde im Römischen Reich begründet. Der „cursus publicus“ beförderte offizielle Post per Schiff oder Pferd zwischen den Provinzen. Für die private Korrespondenz griffen die Römer eher auf Wachstafeln (tabulae) zurück: Sie waren das Medium für „kurze Schreiben“ – auf Lateinisch „brevis libellus“; daraus ging das deutsche Wort Brief hervor.
Dass die heutige Zeit so viel über Leben und Denken der Antike weiß, verdankt sie auch Briefen: Von Cicero etwa sind über 900 Briefe erhalten. Auch für Christen spielen Briefe eine bedeutende Rolle: Dem Apostel Paulus etwa werden 13 Episteln zugeschrieben, entstanden zwischen 48 und 61 nach Christus. Ein Netz vertrauenswürdiger Boten transportierte sie zu den Gemeinden in Rom, Ephesus oder Korinth. Sie sind ein wichtiger Teil des Neuen Testaments und haben Weltgeschichte geschrieben.
Im Mittelalter verschickten in erster Linie kirchliche Würdenträger und adelige Herrscher Briefe. Später waren es dann Kaufleute, die zwischen den europäischen Handelsstädten eine rege Kommunikation aufbauten. Die zunehmende Alphabetisierung und die Ausweitung staatlicher und städtischer Postsysteme im 18. Jahrhundert machten den Brief dann zum Alltagsmedium.
Brief ist nicht gleich Brief. Er ist Unterhaltung, Gedankenexperiment, Liebeserklärung, Literatur oder Vermächtnis und damit eine Quelle von unschätzbarem Wert. Goethe hat rund 20 000 Briefe ge-schrieben. Er und Schiller sandten sich zwischen 1795 bis 1799 nahezu täglich Schreiben zwischen Weimar und Jena. Dabei hatten beide wohl eine Veröffentlichung ihrer Korrespondenz einkalkuliert – entsprechend waren sie formuliert. Gerade Goethe war es auch, der Briefe als Bausteine seiner Literatur nutzte, etwa im berühmtesten aller Briefromane, den „Leiden des jungen Werther“. Anders Franz Kafka, von dem 1500 Briefe erhalten sind. Ihm dienten Briefe auch dazu, die Vereinsamung zu durchbrechen.

Für Goethe waren Briefe die wichtigsten Denkmäler

Briefe sind auch wichtige Quellen für Historiker: 40 Milliarden wurden während des Zweiten Weltkriegs zwischen deutschen Soldaten und ihren Familien ausgetauscht. Briefe von zum Tode Verurteilten aus Nazi-Gefängnissen dokumentieren die seelische Kraft, die sie übertragen können. Israels Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem zeigt derzeit erschütternde Briefe, die Juden vor ihrer Ermordung an Angehörige schrieben.
„Briefe gehören zu den wichtigsten Denkmälern, die der einzelne Mensch hinterlassen kann“, schrieb Goethe 1805. Das kann jeder bestätigen, der Schreiben von Eltern und Großeltern, Liebesbriefe oder alte Urlaubskarten aufbewahrt. Im Zeitalter von E-Mail und WhatsApp, die schnell sind und deshalb viel unmittelbarer wirken, könnten solche Denkmäler künftig fehlen.