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“Hamlet-Syndrom” zeigt eine zerrissene ukrainische Generation

Fünf junge ukrainische Schauspielerinnen und Schauspieler legen bei Hamlet-Proben ihre vom Krieg, aber auch von anderen Zwiespälten geprägten Widersprüche offen.

In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:

Ein Dokumentarfilm über die Traumata junger Ukrainer, die in post-sowjetischen Zeiten geboren wurden und 2014 bei der Maidan-Revolution etwa 20 Jahre alt waren. Festgemacht wird dies an fünf jungen Menschen, die wenige Monate vor dem Einmarsch der russischen Armee im Frühjahr 2022 bei einem Theaterprojekt rund um die Hamlet-Figur mitmachen. In Reibung an der Shakespeare-Figur arbeiten sie sich an den eigenen (Kriegs-)Erfahrungen und mannigfaltigen inneren Zwiespälten ab.

Der Film von Elwira Niewiera und Piotr Rosolowski aus dem Jahr 2022 vermittelt eindringlich, welche psychische und physische Schwerstarbeit die künstlerische Konfrontation mit den eigenen Traumata für die Protagonisten darstellt. Umso beklemmender wirkt er angesichts des Wissens, dass nach dem Theaterprojekt ein neuer Krieg begann.

Am Anfang steht eine vage Idee: Shakespeares Hamlet, der sich entscheiden muss. Die junge Theaterregisseurin Rosa Sarkissjan sieht es so: “Ich möchte durch Hamlet und durch eure Geschichten verstehen, wofür wir heute im Leben kämpfen. Wenn wir fragen: Sein oder nicht sein? Machen oder nicht machen? Einen Kompromiss schließen oder nicht? Radikal sein oder nicht?”

Sie hat in Kiew ein Ensemble junger Schauspielerinnen und Schauspieler um sich versammelt, um biografisches Erzählen zum Steinbruch einer künstlerischen Performance zu machen. Und vielleicht auch ein Porträt der nach 1989 geborenen “Maidan-Generation” zu skizzieren. Geprägt vielleicht von zivilgesellschaftlichem Engagement und emanzipatorischen Energien, aber auch vom Krieg in der Ostukraine, an dem drei der fünf Protagonisten teilgenommen haben.

Der Film von Elwira Niewiera und Piotr Rosolowski dokumentiert Ausschnitte aus der Probenarbeit. Einer der Darsteller ist Roman, der 2015 seinen Wehrdienst an der Front als Sanitäter ableistete und eine posttraumatische Belastungsstörung davontrug.

Slaviks Hamlet-Erfahrung lässt sich exakt auf den 21. Januar 2015 datieren, weil er bei der Schlacht um den Flughafen Donezk in Gefangenschaft geriet, gefoltert wurde und fast Selbstmord begangen hätte. In der konkreten Situation der Todesbedrohung habe er sich “frei” gefühlt, gerade weil er nichts mehr entscheiden musste.

Rodion verschlug es wegen seiner politischen Haltung und seinen queerfeindlichen Erfahrungen im Donbass nach Kiew, wo er an der Theaterakademie studierte, als Stylist und Filmkostümdesigner arbeitete und sich in der LGBTQ-Community engagierte. Seine Perspektive unterscheidet sich deutlich von derjenigen Katyas, die bei den Maidan-Protesten aktiv war und bei Kriegsausbruch 2014 in einem der ersten Freiwilligenbataillone Fronterfahrungen machte, etwa indem sie Getötete einsammelte, damit sie begraben werden konnten.

Die professionelle Schauspielerin Oxana sorgt hingegen für andere Perspektiven auf die Ukraine, insofern sie dezidiert links-feministische Positionen vertritt. Während bei den drei mit Fronterfahrung die Hamlet-Formel “Leben oder sterben?” lautet, steht Oxana vor der Entscheidung “Gehen oder bleiben?”

Dass die Beteiligten in ihren Erzählungen Schicht für Schicht mutiger werden, verleiht dem Film eine hohe Intensität. Gerade weil nicht auf Fragen geantwortet wird, sondern die Traumata in Sprache und Gestik überführt werden, zeigt sich, wie sich die Gewalt der Menschen bemächtigt.

Der Rahmen der intensiven Probenarbeit wird durch Archivmaterial und durch zusätzliche Szenen aufgebrochen und erweitert, die die Darsteller in Alltagssituationen zeigen. So macht Katya Interviews, um Kriegsverbrechen zu dokumentieren, während Slavik mit seinem Vater über Scham spricht und Rodion seine Mutter nach ihrer einstigen Homophobie befragt.

Die Schauspieler und ihre Haltungen bekommen dadurch etwas mehr Kontur. Denn ihre Einstellungen und Widersprüche sind mannigfaltig. Oder wie es die Regisseurin Rosa Sarkissjan einmal formuliert: “Warum können wir uns hier nicht einigen? Wie sollen wir von unserem Land erzählen, wenn wir uns auf 20 Quadratmetern nicht einigen können? Und das unter Leuten, die auf der gleichen Seite der Front kämpfen.”

Tatsächlich sind die Konflikte und Widersprüche derart virulent, dass sie auch beim Publikum auf Resonanzen stoßen dürften. Wie hält man es selbst mit Symbolen, die patriotisch oder auch nationalistisch aufgeladen sind? Ist die alte Kritik der Linken an der Nation heute bereits eine Provokation, weil sie die Wehrkraft zersetzt? Ist es egoistisch, in Kriegszeiten aus Karrieregründen sein Land zu verlassen?

Viele der in “Das Hamlet-Syndrom” thematisierten Diskurse werden seit dem 24. Februar 2022 auch in Deutschland diskutiert. Wirklich beklommen aber macht, dass das Theaterprojekt wenige Monate vor dem russischen Angriffskrieg entstand, dass die Protagonisten seitdem auf die eine oder andere Weise an Kriegshandlungen beteiligt sind und dass die im Film verhandelten Konflikte und Traumata seitdem in jeder Hinsicht unendlich potenziert sind.