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Gute Hirten?

Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Hesekiel 34,2

Jedem Gottesdienst ist ein Abschnitt aus dem Alten Testament ­zugeordnet. Im Gedenkjahr „1700 Jahre ­jüdisches Leben in Deutschland“  fragen Autorinnen und Autoren im „angesagt“ danach, welche Schätze in der hebräischen ­Bibel, dem Tanach, zu heben sind.

Sibylle Sterzik zur Alttestamentlichen Lesung

Zwei wollen Kanzler werden. Sie streiten, provozieren einander, werben mit allen Tricks um Mehrheiten. Schinden Zeit, drängen auf Entscheidung, je nachdem. Sind es gute Hirten? Davon konnten die Bundesbürger*innen sich in der Vergangenheit selbst ein Bild ­machen. 

Trotzdem bleibt ein Restrisiko. Gib einem Macht – und du weißt, was für ein Mensch, Kanzler oder Hirte er oder sie ist. Nicht die Macht verdirbt den Charakter, ­sondern der Charakter die Macht. Denn mit Macht lässt sich auch ­Gutes tun. So will es der Herr, für den Hesekiel dem Volk Israel weissagen soll.

Im Auftrag Gottes sagt der Prophet Hesekiel genau, wie sich Macht zum Wohle der Herde, oder sagen wir des Volkes, einsetzen lässt. Hirte zu sein – in biblischer Zeit ein gängiges Bildwort für ­Könige –, heißt gut für die Herde zu sorgen. Sie zu schützen, zu fördern, zusammen­zuhalten, Schwache ­zu stärken, Kranke zu heilen, das Verirrte ­zurückzuholen. Niemandem einem anderen zum Fraß vorwerfen. Und sich nicht selbst schick kleiden und mit bestem Essen vollstopfen, während andere frieren und darben.

Die Versuchung mag groß sein, wenn erstmal Position und Einfluss da sind, um einen Vorteil für sich, seine Partei oder die Fangruppe ­herauszuschlagen. Wer hätte das nicht schon einmal erlebt und vielleicht auch ein kleines bisschen ausgenutzt. Allzu menschlich. Doch je höher der Hirtensessel, desto fataler die Wirkung. Auch in der Herde verdrängen die Starken die Schwachen  von der Weide. 

Gott sei Dank gibt es Hoffnung. Der Herr nimmt selbst den Hirtenstab in die Hand. „Ich will sie weiden, wie es recht ist“, lässt er Hesekiel sagen (34,16). Eine neue Gerechtigkeit führt er ein. Sich nicht selbst weiden, diese Eigenschaft entscheidet, ob jemand ein guter Hirte oder eine gute Hirtin ist. ­Daran lassen sich alle messen. Die es sind oder die es werden wollen.