Marutha Menuhin war eine selbstbewusste Frau. Als ihr Hauswirt seiner jüdischen Mieterin mit antisemitischen Bemerkungen kam, reagierte sie auf ihre Weise: Sie nannte ihren Sohn Yehudi – der Jude. „Mit diesem Namen soll er siegen oder untergehen“, schrieb die damals erst 20-Jährige in die Familienchronik. Ihr Sohn siegte – vor 100 Jahren, am 22. April 1916, wurde der Geiger, Dirigent, Schulgründer und Humanist Yehudi Menuhin geboren.
Seine Eltern waren hochgebildet, musikalisch interessiert und verstanden schon früh, welch großes Talent ihre drei Kinder mitbekommen hatten. Denn auch Yehudis Schwestern waren hochbegabt. Vor allem die vier Jahre jüngere Hephzibah stand Yehudi sehr nahe. Die beiden Geschwister bestritten schon als Jugendliche gemeinsam zahlreiche Konzerte und Schallplattenaufnahmen, sie am Klavier, er an der Geige. Später heirateten sie sogar ein Geschwisterpaar – beide Ehen scheiterten.
Erster Geigenunterricht
mit fünf Jahren
Die Förderung ihrer Kinder wurde zum Lebensprojekt von Marutha und Moshe Menuhin. Yehudi und seine Schwestern gingen nie zur Schule, die Eltern unterrichteten sie zu Hause und sorgten mit viel Einsatz für den bestmöglichen Musikunterricht. Mit fünf Jahren bekam Yehudi seinen ersten Geigenunterricht. Zwei Jahre später wurde er Schüler von Luis Persinger, damals Konzertmeister des Sinfonieorchesters von San Francisco. Seine natürliche, erstaunlich reife Musikalität und sein intuitiv sicheres Spiel führten Yehudi von Erfolg zu Erfolg und 1926 bis nach Europa. Die Komponisten und Geiger George Enesco und Adolf Busch unterrichteten den Jungen und prägten seinen Musikstil für den Rest seines Lebens. Ein Konzert in Berlin brachte den internationalen Durchbruch – kurz vor seinem 13. Geburtstag.
Konzertagenturen weltweit rissen sich um das Wunderkind, die Zeitungen überschlugen sich vor Lob – aber zunehmend mischten sich auch kritische Töne darunter. Denn der junge Erwachsene verlor die Sicherheit und Leichtigkeit seines Spiels, technische Mängel traten zutage – der inzwischen 19-jährige Yehudi geriet in eine Krise, die er nur mühsam überwand. „Ich hatte Geige gespielt, ohne sie technisch zu beherrschen“, schrieb er in seinen Erinnerungen. In jahrelanger Arbeit holte er nach, was andere Geiger in ihrer Jugend aufbauen, aber Kritiker bemängelten noch Jahrzehnte später die „Unausgewogenheit“ seines Spiels.
Der Musik seiner frühen Jahre blieb Menuhin treu. Zu seinem Repertoire gehörten natürlich „die drei großen B“ – Bach, Beethoven und Brahms, als weitere „Bs“ auch regelmäßig das Violinkonzert in g-Moll von Max Bruch und immer wieder die Sonate für Violine und Klavier Nr. 2, die Bela Bartok bereits 1944 für ihn komponierte.
Menuhin war kein „Crossover“-Musiker, hatte aber auch keine Berührungsängste gegenüber Genres jenseits der klassischen Musik. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab er sein Debüt als Dirigent, gründete und leitete Musikfestivals – und schrieb unzählige Leserbriefe an die britische „Times“. Denn Menuhin verstand sich als Mahner und Versöhner. Er setzte sich für verfolgte Künstler in der Sowjetunion ein und kritisierte das Apartheid-System in Südafrika. Bereits 1947 spielte er mit dem Dirigenten Wilhelm Furtwängler zusammen und wurde dafür vor allem von jüdischen Musikern heftig kritisiert. Denn Furtwängler hatte als Aushängeschild der Nazis gegolten. Aber Menuhin verteidigte seine Entscheidung: Nach Zeiten des Elends sei es nötig, wieder für das Gute zu arbeiten.
Zu dieser Haltung hatte wohl auch die Werte-Erziehung seiner Eltern beigetragen: Ehrenhaft solle er handeln und vom Leben mehr verlangen als Erfolg und Anerkennung. An seinem Erfolg hatten auch großzügige Mäzene teil, die ihm hervorragenden Unterricht bezahlt und schon früh Spitzen-Instrumente zur Verfügung gestellt hatten. Diese Förderung wollte Menuhin weitergeben. 1963 gründete er im englischen Stoke d'Abernon eine Schule für musikalisch hochbegabte Kinder und Jugendliche und unterrichtete dort teilweise auch selbst. Überzeugt von der positiven Wirkung der Musik, gründete er „Live Music Now“, eine Organisation, die Aufführungen klassischer Musik für Menschen ermöglicht, die sich keine Konzertbesuche leisten können. Noch kurz vor seinem Tod übernahm er die Schirmherrschaft für einen Verein zur Förderung der Alltagskultur des Singens.
Yehudi Menuhin war Kosmopolit von Geburt und aus Berufung. Seine Eltern stammten beide aus Russland und waren über Palästina nach Amerika ausgewandert. Yehudi wurde in New York geboren, später nahm er die schweizerische und englische Staatsbürgerschaft an. Seine Konzertreisen führten ihn rund um die Welt. Er habe Zeit seines Lebens nie länger als fünf Wochen an einem Ort gelebt, sagte er einmal von sich selbst. Das ist zwar übertrieben, hat aber einen wahren Kern – sein eigentliches Zuhause waren Konzertsäle und Hotels. Trotzdem hatte er ein Familienleben, das vor allem von seiner zweiten Frau, der Tänzerin Diana Gould, zusammengehalten wurde.
Die Queen erhob Menuhin in den Adelsstand
Im Laufe seines Lebens wurde Yehudi Menuhin mit Ehrungen überhäuft, die Queen erhob ihn in den Adelsstand, in Deutschland erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bis ins hohe Alter bewahrte er sich seinen jugendlichen Elan. Als er am 12. März 1999 unerwartet in Berlin starb, war das ein Schock für seine zahlreichen Verehrer. Aber seine Musik lebt weiter: in ungezählten Schallplattenaufnahmen und in seinen Stiftungen.