Artikel teilen:

Große Gefühle

Im Advent beginnt der allgemeine Ausnahmezustand: Die Gefühle wallen auf. Eine Chance – auch, um das gemeinsame Singen von geistlicher Musik wieder zu entdecken

Jingle bells, jingle bells – manche Lieder sind nicht totzukriegen. Wenn das Kinderkarussell aufgebaut wird und sich Glühweinduft mit dem Aroma von Zuckerwatte und Reibeplätzchen paart, dann steht Weihnachten vor der Tür. Und untrennbar zählt dazu: Musik.
Mit einigem inneren Abstand könnte man sich ja wundern, was für ein Gedudel wir uns da im Vorfeld des Heiligen Abends anhören. Seichte Stimmen, süßliche Melodien. Texte, über die wir – wenn wir sie ins Deutsche übersetzen würden – spätestens ab Mitte Januar nur noch grinsen können.
Aber genau diesen inneren Abstand haben wir nicht. Weihnachten – das ist Ausnahmezustand. Das Empfinden ist überdreht. Ob bei Spielfilmen, Schmück-Bemühungen oder Geschenkebereitschaft: Für vier Wochen wallen die Gefühle auf.
Ein Ausnahmezustand, den viele nutzen. Kauf- und Versandhäuser. Hilfswerke, die darauf setzen, dass beim „Fest der Herzen“ die Menschen leichter ihre Geldbörsen öffnen.
Nur mit der Musik, da ist es im Advent eine komische Sache.
Auf der einen Seite berieselt sie uns von allen Seiten. Das Geträller aus Radio und Lautsprecherbox umgarnt unsere Sinne wie der Glühweinduft auf dem Weihnachtsmarkt. Als Ohrwürmer bohren sich Weihnachtsschlager ins Gemüt, beißen sich in Herz und Hirn, bis sie ihr Werk vollenden: die große Gefühlsduselei.
Auf der anderen Seite ist geistliche Musik – also die, die im ursprünglichen Sinn zu Advent und Weihnacht zählt und von ihr kündet – auf dem Rückzug. Sicher, noch immer gibt es gut besuchte Weihnachts-Oratorien und Chorkonzerte; und die Menschen, die am Heiligen Abend in den Gottesdienst gehen, können zum großen Teil noch „O du fröhliche“ singen.
Aber: gemeinsames Singen? Zuhause? Im Kreis der Familie? Mit Freunden? Mit Arbeitskolleginnen und -kollegen? Selbst in kirchlichen Einrichtungen ist das nicht mehr selbstverständlich.
Schade. Denn gemeinsames Musikmachen kann wichtige Aufgaben erfüllen. „Es ist eine Erfahrung in der Gruppe, schult die Konzentration der Kinder hinzuhören, aufeinander zu reagieren und nicht die ganze Zeit am Computer oder am Smartphone zu hängen“, sagt Dorothee Oberlinger, dreifache Echo-Klassik-Preisträgerin und Weltklasse-Blockflötistin, nach einem Bericht der Katholischen Nachrichtenagentur. Und Star-Geiger André Rieu ergänzt: Kirchenchöre sind der ideale Ort für die musikalische Erziehung von Kindern.
Die Weihnachtszeit nutzen – fürs gemeinsame Singen von Choral und Weihnachtslied. Wie kann das funktionieren? Es gibt Chöre, die machen überwältigende Erfahrungen mit Veranstaltungen zum „Offenen Adventsliedersingen“. Keine Konzerte, sondern Mitsing-Aktionen: Hier kann jeder mitmachen, auch ohne Vorkenntnisse.
Da könnte sich eine Chance abzeichnen. Und warum sollte man bei so einer Veranstaltung nicht die Lieder mischen: „Jingle bells“ oder „Last Christmas“ – und dann eben auch „Tochter Zion“.